Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
stellen?«
»Rimnak hat schreckliche Angst vor dir«, erklärte Tlanhan, »aber sie würde Keshna das Herz mit den Zähnen herausreißen, wenn ich sie ließe. Sie wird kommen.«
20. KAPITEL
An Keshnas Hochzeitstag wurde Luma kurz vor Sonnenaufgang vom Gezwitscher der Vögel geweckt. Als sie das Zelt verließ, sah sie, daß das Unwetter vorbei war. Der östliche Himmel war von einem sehr blassen Rosa überhaucht. Einen Moment lang stand Luma da und beobachtete, wie das Rosa allmählich in Rot überging. Dann bückte sie sich, berührte die Erde als Glücksbringer und schickte ein schnelles Gebet zu Batal, um die Göttin zu bitten, Keshnas Hochzeit möge ebenso friedlich werden wie der Sonnenaufgang. Es war ein etwas unbeholfenes Gebet, denn die Mutterleute heirateten nicht, und Batal mißbilligte zweifellos den nomadischen Brauch, Frauen zu besitzen, aber es war das einzige, was Luma unter diesen Umständen tun konnte. Sie richtete sich wieder auf, hielt nach Keshna Ausschau und versuchte, nicht an all die Dinge zu denken, die wahrscheinlich schiefgehen würden.
Keshna war nirgendwo zu sehen. Sie war wohl sehr früh aufgestanden und zum Fluß hinuntergegangen, um ein Bad zu nehmen. Luma drehte sich wieder zum Zelt um, und dabei bemerkte sie, daß links neben dem Eingang in einem Halbkreis aufgereiht drei kleine Körbe mit Speisen standen. Die Körbe waren sorgfältig wie eine Opfergabe arrangiert, und zwischen den verschiedenen Eßwaren waren Blumen verstreut – hauptsächlich Wasserlilien, aber auch Sumpfdotterblumen und einige wunderschöne purpurrote Blüten, die Luma nicht kannte.
Was für ein hübscher Brauch, dachte sie.
Sie schlenderte zu den Körben und sah, daß sie getrocknete Kir-
schen enthielten (zweifellos irgendeinem armen Händler gestohlen), ferner frischen, in Blätter eingewickelten Käse, kleine, in heißer Asche gebackene Maiskuchen, mit Honig kandierte Walnüsse und eine spezielle »Köstlichkeit«, die die Nomaden besonders schätzten, gebratene Grashüpfer. Luma grinste bei dem Gedanken an Keshnas Miene, als sie den Korb voller Grashüpfer gefunden hatte. Allem Anschein nach hatte Keshna störrisch ein paar davon gegessen, nur um zu beweisen, daß es ihr überhaupt nichts ausmachte, und sich dann mit den Dingen befaßt, die sie wirklich mochte: den Kirschen, dem Käse und den in Honig getauchten Walnüssen.
Luma war gerade im Begriff, sich den restlichen Käse einzuverleiben, als sie noch einen vierten Korb entdeckte. Jemand hatte ihn umgekippt, durch den Schlamm gezogen und ihn halb unter den Boden des Zelts geschoben. Luma ging hinüber, um den schmutzigen Korb unter dem Zelt hervorzuziehen. Sobald sie sah, daß er über und über mit Hammelfett beschmiert, war, wußte sie g wer der Übeltäter war. Seine Zahnabdrücke waren noch auf dem Rand zu erkennen.
»Kläffer! « rief sie. »Komm her! « Normalerweise kam Kläffer sofort, wenn sie ihn rief, aber an diesem Morgen hatte er sich wohl schuldbewußt unter einem Busch versteckt, wo er das gestohlene Hammelfleisch verdaute. Sie rief rief ihn noch ein paarmal, aber Kläffer ließ sich nicht blicken.
Egal, dachte sie, laß ihn seinen gestohlenen Festschmaus haben. Es spielte wirklich keine Rolle. Es würde heute noch so viel zu essen geben, daß es an ein Wunder grenzen würde, wenn nach dem Hochzeitsmahl noch irgend jemand im Lager imstande wäre, ein paar Schritte zu gehen, ohne zu watscheln.
Sie betrat das dämmerige Zelt und machte sich daran, eine der Seiten hochzuziehen, um etwas Licht hereinzulassen. Als sie nach dem Seil griff, stolperte sie über etwas. Verärgert trat sie über den kleinen braunen Hügel auf dem Boden hinweg, den sie für einen von Keshnas Stiefeln hielt, und zog die Zeltseite hoch. Helles Sonnenlicht strömte herein, und sie sah, daß das Ding, über das sie gestolpert war, Kläffer war.
»Kläffer«, sagte sie neckend, »steh auf, du Faultier!« Diesmal stieß sie ihn absichtlich mit ihrer großen Zehe an, aber er rührte sich nicht.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Luma über Kläffer stolperte, erwachte Keru aus einem sehr erfreulichen Traum. Zwar hatten er und Keshna in seinem Traum keinen Sex gehabt – was noch erfreulicher gewesen wäre –, aber sie hatte ihn angelächelt und ihm eine Schale mit Milch gebracht, und als er ihren Bauch berührt hatte, hatte er erkannt, daß sie sein Kind unter dem Herzen trug. Einen besseren Traum konnte ein Mann in der Nacht vor seiner Hochzeit wohl kaum
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