Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Er schien auf dem Wasser zu treiben, statt sich an die Fische heranzupirschen, wie es Reiher gewöhnlich taten, und er hatte eine merkwürdige Form, dünn und lang wie ein ...
... es war überhaupt kein Vogel! Es war ein menschlicher Arm! Luma rannte, von einer bösen Vorahnung erfüllt darauf zu. Sie fand Keshna reglos im Schlamm ausgestreckt. Sie lag auf dem Rücken, und ihr rechter Arm baumelte schlaff im Fluß, aber ihr Kopf war glücklicherweise außerhalb des Wassers. Ihre Lippen waren bläulich verfärbt, und sie atmete in kurzen, keuchenden Stößen. Luma kniete sich neben sie, zog sie hoch, wischte ihr den Schlamm vom Gesicht und schüttelte sie behutsam. »Keshna «, flehte sie, »wach auf. Mach die Augen auf!«
Keshna bewegte sich leicht und öffnete die Augen. »Schlecht«, lallte sie, »mir's schlecht.« Sie blickte blinzelnd zu der einen Luma hinauf, aus der gerade vier Lumas geworden waren. Aus Keshnas Perspektive war die ganze Welt um sie herum ein großer schwarzer Kegel, und Lumas vier Gesichter waren vier verschwommene Lichtflecke ganz am anderen Ende.
»Ich weiß, daß dir schlecht ist. Aber du mußt mit mir sprechen. Du mußt mir sagen, was du gegessen hast. Hast du etwas von dem Fleisch aus dem Korb gegessen?«
»Fleisch?« Keshna fühlte, wie sich ihre Zunge zusammenrollte und anschwoll.
»Das Fleisch, das Hammelfleisch. Jemand hat heute morgen vier Körbe mit Essen vor unser Zelt gestellt, und in einem davon war Hammelfleisch. Hast du davon gegessen? Hör zu: Kläffer hat von dem Hammelfleisch gefressen, und er ist tot. Hast du irgend etwas davon gegessen?«
»Nee, glaub nicht.« Keshna drehte den Kopf und übergab sich wieder.
»Gut. Erbrich noch mehr davon. Spuck alles aus, wenn du kannst.«
»Tut weh.« Keshna hielt sich mit beiden Händen den Bauch. Sie rang mühsam nach Luft und versuchte, sich wieder in den Schlamm zu legen, aber Luma packte sie unter den Armen und zwang sie aufzustehen. Keshna schwankte, als ob sie betrunken wäre, und sie wäre fast gefallen, doch Luma fing sie auf.
»Kann nicht laufen.«
»Du mußt laufen. Du hast etwas gegessen, was vergiftet war. Du mußt laufen, sonst wirst du einschlafen und sterben!«
»Kaler Fuch.«
»Nein, es ist nicht der kalte Fluch. Bitte versteh doch: Changar hat dich vergiftet! Ich habe dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören, aber das ist jetzt auch egal. Ich bringe dich ins Lager zurück. Wir werden diesen Shjetak-Schamanen finden und ihn zwingen, uns zu sagen, womit er dich vergiftet hat, damit ich dir ein Gegenmittel geben kann.« Shjetak war einer von Ranalas Lieblingsflüchen. Luma hatte ihn noch nie zuvor gebraucht, aber wenn es einen Augenblick gab, wo Fluchen angebracht war, dann jetzt. Sie war zu Tode erschrocken über Keshnas Zustand, und sie hatte keine Ahnung, ob es überhaupt ein Gegenmittel gab.
»Komm schon, geh vorwärts. Setz einen Fuß vor den anderen. Changar wird überrascht sein, uns zu sehen. Wenn der arme Kläffer nicht so gierig gewesen wäre, wären wir wahrscheinlich alle tot.« Sie zog Keshna das Ufer hoch, schleifte sie halb durch den Schlamm.
»Schaf'n. Will schaf'n. Bitte.«
»Nein«, erwiderte Luma unbarmherzig. »Ich werde dich nicht schlafen lassen. Setz dich in Bewegung. Geh endlich! Du willst doch nicht an deinem Hochzeitstag sterben, oder? Übergib dich noch einmal, wenn du kannst, und versuch, mich zu warnen, damit ich aus dem Weg springen kann! Aber geh weiter!«
Keshna wußte, daß Luma recht hatte. Sie mußte weitergehen, sonst würde sie sterben; aber der Boden unter ihren Füßen war jetzt weich und schlammig, und ganz gleich, wie angestrengt sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, sie stolperte. Als sie das erste Mal fiel, konnte Luma sie gerade noch auffangen und sie dazu bringen, ein paar Schritte weiterzugehen. Aber beim zweiten Mal stürzte sie wie ein Stein, der in einen Brunnen geworfen wird. Irgendwo hoch über ihr hörte sie, wie Luma sie anflehte, wieder aufzustehen. Und dann waren ihre Ohren plötzlich von einem Brummen erfüllt, lauter als das Brummen von Hunderten von Fliegen, und Lumas Stimme verblaßte, und alles, was Keshna sehen konnte, war ein Art Netz aus Finsternis.
VIERTES BUCH
Das Brot der Finsternis
Choatk, Fürst der Finsternis,
Choatk, dessen Blut ein brennender Fluß ist,
Choatk, Vater der Spinnen,
Choatk, Gott des Todes:
Mach mein Dolchheft stark;
laß meine Klinge durch Knochen schneiden;
verwandle meine Dolchspitze in einen
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