Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
machen, daß Keshna es aber versäumt hatte, Luma in diesen Teil des Plans einzuweihen, so daß Luma von Keshnas Weigerung, einen Partner für die erste Nacht zu wählen, völlig überrumpelt worden war.
Der erbitterte Streit zwischen Mutter und Tochter ging noch eine ganze Weile weiter. Schließlich riß Hiknak der Geduldsfaden. Sie trat energisch auf Keshna zu, packte ihre Tochter am Handgelenk und zog sie unsanft auf die Füße. Dann beugte sie sich ganz nah zu ihr und flüsterte ihr in gedämpftem, strengem Ton etwas ins Ohr. Keiner hörte, was die Mutter zu ihrer Tochter sagte, doch Keshnas Verhalten änderte sich abrupt. Plötzlich kullerten Tränen über ihre Wangen, und sie drehte sich mit einem Gesicht, blutrot vor Scham und Reue, zu Marrah um.
»Es tut mir leid, Tante Marrah«, murmelte Keshna. »Ich wollte Luma nicht ihren Volljährigkeitstag verderben.«
Marrah wartete darauf, daß Keshna fortfahren würde, aber dies war offenbar sowohl der Anfang als auch das Ende ihrer Entschuldigung. Daß das Mädchen – Marrah war im Moment nicht in Stimmung, Keshna als Frau zu bezeichnen – lediglich sagte, es täte ihr leid, war unter diesen Umständen wohl kaum ausreichend. Keshna hatte nicht nur einen der wichtigsten Augenblicke in Lumas Leben zerstört, sie hatte auch die Tänzer vor den Kopf gestoßen, ihrer Mutter Schande gemacht, Unglück auf sich selbst und alle anderen herabbeschworen und ein Sakrileg begangen. Dennoch sah Marrah keinen Sinn darin, ihr jetzt eine Strafpredigt zu halten und die Zeremonie noch länger hinauszuzögern.
Sie bedachte Keshna mit einem Blick, der besagte: Dich knöpfe ich mir später vor, und fragte sie dann: »Bist du jetzt bereit, einen von diesen jungen Männern auszuwählen, die dir zu Ehren mit solcher Schönheit und Anmut getanzt haben, Keshna?«
Keshna warf einen schnellen Blick auf ihre Mutter, die sie anstarrte wie eine äußerst gereizte Löwin. Marrah konnte die Hitzigkeit von Hiknaks Nomadenhäuptlingsvater in ihrem Gesicht wüten sehen. Hiknak legte all ihren Zorn in einen finsteren Blick, der einen Habicht tot aus der Luft hätte herabstürzen lassen.
Keshna seufzte und musterte die knienden Tänzer mit einem gelangweilten Ausdruck, der die reinste Beleidigung war. »Ja«, sagte sie sanft und sah Marrah mit ihren samtschwarzen Augen an, die ihre wahren Gefühle stets zu verbergen schienen. »Ja, ich bin bereit zu wählen.«
Die falsche Liebenswürdigkeit in Keshnas Stimme ärgerte Marrah noch mehr als ihr unverschämtes Benehmen, aber sie hielt den Mund. Schweigend kehrte sie Keshna den Rücken zu und wandte ihre Aufmerksamkeit den bestürzten Zuschauern, den erschrockenen Kindern und den zutiefst gekränkten Priesterinnen und Priestern der Insel zu. Die Tänzer knieten in einer unregelmäßigen Linie hinter ihren erloschenen Fackeln und sahen so niedergeschlagen und mutlos aus wie ein Schwarm völlig durchnäßter Eulen. Keshna hatte zweifellos ein besonderes Talent, anderen die Freude zu verderben. Als Königin von Shara und Gründerin der Zufluchtsstätte auf Alzac erwartete man von Marrah, daß sie beschwichtigend eingriff und die Dinge wieder in Ordnung brachte, wenn etwas schiefgegangen war. Aber an diesem Abend schien es ihr, als übersteige die Aufgabe, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und die Leute wieder in eine festliche Stimmung zu versetzen, ihre Fähigkeiten. Dennoch war es ihre Pflicht, es zumindest zu versuchen.
»Freunde«, sagte sie, »dies ist nicht das erste Mal, daß eine neue Frau am Abend ihrer Volljährigkeit nervös und ungebärdig ist. Keshna hat unbesonnen gesprochen, vielleicht aus Furcht. Ich bin überzeugt, sie bereut ihre Worte zutiefst. Diese jungen Männer hier«, sie wies mit einer weit ausholenden Geste auf die Tänzer, »sind alle so attraktiv und tanzen so gut, daß man leicht verstehen kann, warum es ihr so schwerfällt, unter ihnen zu wählen. Selbst mein lieber Bruder Arang kann nicht besser tanzen als diese liebenswerten jungen Männer aus Alzac.«
Nur gut, daß niemand außer Marrah, Luma und Hiknak verstanden hatte, was Keshna meinte, als sie das Wort Arishik hervorgespien hatte, sonst wäre Marrahs Versuch, die Leute versöhnlich zu stimmen, kläglich gescheitert. Die Tänzer waren hocherfreut, daß ihre Tanzkünste so überschwenglich gelobt wurden. Es war ein seltenes Kompliment, mit Arang aus Shara verglichen zu werden, einem der besten Tänzer, den die Mutterleute jemals hervorgebracht hatten.
Marrah
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