Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
ihn zu heilen, und keinen Trank, um ihn zu lindern. In letzter Zeit hatte er zu fürchten begonnen, Gott Han habe ihn geprüft, für unzulänglich befunden und beschlossen, ihn zu bestrafen. Wenn er an den Schmerz dachte, stellte Changar sich einen riesigen weißen Bären vor, groß wie zwei Männer. Der Bär war Gott Hans Bote, und wenn er nachts zu Changar kam, um seine Krallen in seine Seite zu schlagen, schreckte dieser oft schreiend aus dem Schlaf hoch. Tagsüber, wenn er wach war, gelang es ihm jedoch gewöhnlich, den Bären zu bezwingen.
    Changar kniff die Augen noch fester zusammen und malte sich aus, wie er die gewaltige Schnauze des Bären mit seinen bloßen Händen packte und seine Kinnladen auseinanderzwang. Der Bär wehrte sich erbittert, spuckte Speichel, der auf Changars Haut brannte, doch Changar zog unablässig, bis die Muskeln zerrissen wie morsche Fäden und der Bär erzitterte und tot zu seinen Füßen zusammenbrach.
    Als der Bär starb, fühlte Changar einen bitterkalten Luftzug durch sein Zelt wehen und auch noch das letzte bißchen Wärme vertreiben. Er öffnete die Augen und stellte fest, daß Keru gekommen war, er stand im offenen Zelteingang, über und über mit Schnee bedeckt und gesund und kraftvoll wie ein junger Hengst. Jeder andere Krieger in Kerus Alter wäre zu dieser späten Stunde längst auf dem Weg zu seinem Zelt gewesen, um die Wärme des Feuers und der Frauen zu genießen; aber Keru sah immer zuerst nach seinem Onkel Changar, bevor er sein Abendessen verzehrte oder mit seiner neuesten Konkubine schlief.
    »Komm rein und schließ die Zeltklappe«, befahl Changar, »bevor wir beide zu Eis erstarren.« Keru tat, wie ihm geheißen, und wandte sich ab, um die Lederschnüre zuzubinden und das Holzbrett vorzuschieben, das die kalte Zugluft abhielt. Kerus Anblick war stets ein gutes Gegenmittel gegen Bitterkeit und Verzweiflung, und als Changar ihn jetzt beobachtete, wie er die Zeltklappe abdichtete, empfand er eine seltsame, verworrene Zärtlichkeit. Es war nicht Liebe – zumindest nicht das, was die Bewohner der Mutterländer als Liebe bezeichnet hätten –, und dennoch war es ein starkes und durchaus aufrichtiges Gefühl. Changar hätte Keru ohne zu zögern die Kehle aufgeschlitzt und ihn Han geopfert, wenn er durch ein solches Opfer eine Armee hätte aufstellen und in Shara hätte einfallen können; aber Keru war eine Art Ersatz für den Sohn, den er nie gehabt hatte, er genoß die Gesellschaft des Jungen, und er hatte im Laufe der Jahre eine gewisse Zuneigung für ihn entwickelt.
    Changar schätzte ansehnliche Männer, und Keru war von einem hübschen Jungen zu einem großen, gutaussehenden Krieger herangewachsen. Sein Haar hatte die goldgelbe Farbe des Herbstgrases, er trug es lang und im Nacken mit einer Lederschnur zusazusammengebunden.ne Augen waren dunkelbraun und von so langen, dichten Wimpern umkränzt, daß sie Changar manchmal an die Augen einer Frau erinnerten. Sonst jedoch hatte Keru ganz und gar nichts Feminines. Sein Kinn war energisch und leicht eckig, sein Bart dicht, seine Hände voller Schwielen und seine Beine so kräftig und muskulös wie die eines Schlachtrosses.
    Für Changars Geschmack sah Keru Stavan ein bißchen zu ähnlich, aber selbst das hatte seine Vorteile. Stavan war ein großer Krieger gewesen, weitaus klüger als Vlahan und kühn genug, um sogar seinen ärgsten Feinden widerwilligen Respekt abzunötigen. Keru mochte vielleicht Stavans Sohn sein und in den Augen der Hansi ein Bastard, hätte man die Wahrheit gekannt, aber in seinen Adern floß das Blut von zehn Generationen Großer Häuptlinge. Er trug die goldenen Ringe in seinen Ohren und die tätowierten Blitze auf seinen Wangen mit Stolz, und er bewegte sich wie ein Mann, der zum Anführer geboren war.
    Als Changar Keru beobachtete, breitete sich ein Ausdruck der Zufriedenheit auf seinem Gesicht aus. Er hob den Arm und holte einen Wasserschlauch von einem der knöchernen Haken, die die Zeltstangen zierten. Im Inneren des Schlauchs war eine Flüssigkeit von der Farbe des Nachthimmels, dunkel, sternenlos und mit Anis gewürzt.
    »Setz dich und trink einen Schluck«, sagte Changar einladend.
    Keru hatte einen Lederbeutel mitgebracht, den er jetzt ohne große Umstände auf den Boden fallen ließ. Er zog seinen Hut und seine Handschuhe aus, warf seinen Umhang aus Wolfsfell ab, hockte sich neben das Feuer und begann sich die Hände zu wärmen, indem er sie kräftig rieb, um die Blutzirkulation in den

Weitere Kostenlose Bücher