Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
hatten, war diese Regel des Schweigens unumstößlich. So war nur das Heulen des Windes zu hören und ein gelegentliches Husten oder –hin und wieder – das jämmerliche Geschrei eines kranken Babys, wenn es in das heilige Quellwasser getaucht und dann hastig wieder herausgeholt und in eine der warmen Decken gehüllt wurde, die griffbereit danebenlagen.
Auf dem Hügel oberhalb der Quelle saßen auf einer langen Holzbank vor dem Tempel der Kinderträume die schwangeren Frauen von Shara, um den Kranken ihren Segen zu erteilen. Auf einer zweiten Bank vor ihnen, eingehüllt in dicke Umhänge, drängten sich die Alten um glühende Kohlenbecken, um ihre Füße zu wärmen und süßen Weihrauch zu verbrennen, der zu Batal hinaufstieg und sich mit dem Dampf der heißen Quelle vermischte.
Die Kinder der Stadt nahmen ebenfalls an der Zeremonie teil; sie rannten hin und her, um weitere Decken zu holen und dabei zu helfen, die Kranken zu einem der wärmenden Feuer zu führen, wo man ihnen einen Becher mit heißem Wein anbot. Aber die Kinder sollten nicht zu Königin Marrah laufen und am Saum ihres Umhangs zupfen, deshalb war Marrah verdutzt und leicht verärgert, als ein kleiner Junge namens Sharnar genau das tat.
Da es bei der Heilungszeremonie häufig Wunderheilungen gab, nahm sie zuerst an, ein Gelähmter sei plötzlich gesund und unversehrt aus der heiligen Quelle herausgestiegen und Sharnar sei deswegen so erregt.
Geh weg und benimm dich,
bedeutete Marrah ihm, aber Sharnar zog weiter an ihrem Umhang und zeigte aufgeregt in die Ferne. Als Marrah über ihn hinwegblickte, sah sie, daß auch andere Leute in dieselbe Richtung zeigten, sogar die Kranken, von denen einige tatsächlich aufrecht in der Quelle standen und über den Rand der Klippen hinwegspähten.
Sieh doch!
sagte Arang in Gebärdensprache.
Sieh doch nur!
gestikulierten die schwangeren Frauen und die Alten, die ein Stück über Marrah saßen und einen besseren Ausblick hatten.
Stavan, der die Zeichensprache der Hansi beherrschte, fuchtelte mit den Händen, um Worte zu bilden, die Marrah nicht verstand; und Hiknak hüpfte in heller Aufregung, aber vor Freude schweigend von einem Fuß auf den anderen. Von der plötzlichen Furcht gepackt, Batal habe die ganze Versammlung mit Tollheit gestraft, eilte Marrah zum Rand der Klippen und blickte auf die Stadt hinunter. Zwei Reiter waren aus dem Wald gekommen, die eine Reihe von Pferden am Zügel hinter sich herführten. Marrah erkannte sie auf Anhieb.
»Es sind Luma und Keshna!« rief sie, bevor sie erschrocken die Hand vor den Mund schlug, weil ihr zu ihrer großen Bestürzung bewußt wurde, daß sie das Schweigen gebrochen hatte. Aber Batal – die selbst vielfache Mutter war – nahm keinen Anstoß daran. Lachend ließ die Göttin einen Schwarm Seemöwen kreischend in die Luft steigen, dann sammelte Sie den Dampf der heiligen Quelle zu dichten Schwaden und fuhr fort, die Kranken zu heilen.
Als die Heilungszeremonie beendet war, wanderten die Sharaner und die Pilger wieder den Klippenpfad hinunter und sangen mit lauter Stimme Dankeslieder. Es war eine feierliche Prozession, die sich aber dank Luma und Keshna sehr schnell in ein Chaos verwandelte. Lahme hinkten auf sie zu, um ihnen zu gratulieren; Kranke drängten sich um sie, um ihnen zu sagen, daß ihr bloßer Anblick fast so gut war wie eine Heilung in der heiligen Quelle. Kinder rannten wild umher, duckten sich unter den Bäuchen der Pferde hindurch und kreischten vor Freude, während ihre Verwandten sie besorgt ermahnten, sich vor den Hufen in acht zu nehmen. Wenn es Lob war, worauf Luma und Keshna aus waren, dann bekamen sie es an diesem Tag überreichlich. Sie wurden von Leuten umlagert, die darauf bestanden, sie zu umarmen und zu küssen und ihnen immer wieder zu versichern, wie mutig, klug und wundervoll es war, daß sie ganz allein ausgezogen und mit sechs prachtvollen Schlachtrössern zurückgekehrt waren. Die Bögen, Pfeile, Packpferde und Vorräte, die sie ohne Erlaubnis mitgenommen hatten, waren vergessen.
Es war Brauch, daß Marrah und Arang nach der Zeremonie zurückblieben, um die Quelle mit heiligen Kräutern zu reinigen, deshalb waren die beiden die letzten, die den Klippenpfad herunterkamen. Marrah hatte eine lange Rede über die Torheit verantwortungsloser junger Frauen vorbereitet, die wie Närrinnen davonrannten, um sich abschlachten zu lassen. Es war eine großartige Rede, einer besorgten Mutter würdig, die gleichzeitig die
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