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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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dahinschwinden. Hustend zog er die Decke aus Kaninchenfell fester um seine Schultern und spuckte einen Klecks braunen, giftigen Schleim ins Feuer. Seine Halskette aus Fuchszähnen und Kupferperlen rasselte geräuschvoll, als er sein Gewicht von einer welken Gesäßbacke auf die andere verlagerte, und die Bitterkeit in seiner Kehle stieg immer höher, bis er glaubte, jeden Moment daran zu ersticken.
    Acht Jahre zuvor war er in die Steppe zurückgekehrt, um Keru aufzuziehen und ihn zum Großen Häuptling der Zwanzig Stämme zu machen, doch als er aus den Wäldern der Mutterländer in das Grasmeer geritten war, hatte er feststellen müssen, daß es die Zwanzig Stämme nicht mehr gab. Und als er den Jungen den Häuptlingen präsentiert hatte, die noch übriggeblieben waren – jenen jämmerlichen Gestalten, die es noch nicht einmal wert waren, die Stiefel der großen alten Häuptlinge zu lecken –, als er ihnen erklärt hatte, daß Keru Vlahans Sohn war, waren die Feiglinge kreidebleich geworden und hatten hastig das Sonnenzeichen gemacht, um böse Geister abzuwehren.
    »Vlahan ist durch den Fluch des Schlangenvogels gestorben!« hatten sie gerufen. Ein paar von ihnen hatten sogar vorgeschlagen, dem Jungen die Kehle durchzuschneiden und ihn Gott Han zu opfern, weil jeder wußte, daß sich Flüche vom Vater auf den Sohn übertrugen. Aber Changar war ein mächtiger Zauberpriester, dessen Ruf die Nomaden noch immer vor Angst erzittern ließ, und so hatten sie es nicht gewagt, Keru anzurühren oder ihn oder Changar darben zu lassen.
    Das war Changars einziges Glück gewesen: Da die Häuptlinge die bösen Geister fürchteten, die er herbeibeschwören konnte, wenn er beleidigt war, hatte Changar das Leben des Jungen retten können und es sogar geschafft, ein paar unzufriedene Krieger dazu zu überreden, ihm Treue zu schwören. Seit acht Jahren zogen sie von Lager zu Lager – ein kleiner Trupp, der zwar nicht willkommen war, aber auch nie abgewiesen wurde. Wenn es etwas zu essen gab, überließ man ihnen die besten Stücke; wenn es Kersek aus gegorener Stutenmilch gab, setzte man sie ihnen vor. Die Häuptlinge schickten ihnen stets Konkubinen, um ihre Mahlzeiten zu kochen und ihr Bett zu wärmen – sogar das Bett des Jungen, der mit zehn seine erste Frau gehabt hatte.
    Keru hatte Changar einmal anvertraut, daß er zuerst kaum gewußt hatte, was er eigentlich mit einer Frau anfangen sollte, außer wie ein Baby an ihren Brüsten zu nuckeln. Doch seit damals hatte Keru eine Menge über Frauen gelernt. Hauptsächlich hatte er gelernt, sie einfach zu nehmen und sie hinterher fallenzulassen. Aber er hatte es nie so recht über sich gebracht, Frauen zu verachten, wie es sich für einen Krieger gehörte, und diese Schwäche des Jungen beunruhigte Changar, weil sie darauf schließen ließ, daß noch
    immer ein Stückchen von Marrah um Kerus Herz geflochten war.
    Jeden Morgen – ob der Himmel nun klar und wolkenlos war, wenn er die Augen aufschlug, oder ob so wie jetzt ein Schneesturm um sein Zelt heulte – malte Changar sich sehnsüchtig aus, wie er an der Spitze eines riesigen Kriegerverbandes in die Mutterländer ritt; er stellte sich vor, daß Keru ihm wie ein gut dressierter Hund gehorchte; er sah die Stadt Shara in Flammen, die Sharaner auf Pfähle aufgespießt und Marrah und Stavan mit blauverfärbten Gesichtern und hervorquellenden Augen, wie sie verzweifelt an den Würgeschlingen zerrten, die er, Changar, ihnen endlich um den Hals geknotet hatte. Aber im Laufe des Tages wurden diese Wunschträume von Rache und Triumph hart wie erkaltendes Fett, und wenn die Sonne unterging, stieg stets wieder die Bitterkeit in seiner Kehle auf und vergiftete sein Abendessen. Dank Keru und der Furcht der Häuptlinge hatte er jetzt fast alles, was er sich je gewünscht hatte – bis auf das eine, das ihm wirklich Befriedigung verschafft hätte.
    Fröstelnd ballte Changar die Hände zu Fäusten, schloß die Augen und versuchte, das Heulen des Sturms von Gott Hans Mißfallen aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Aber der Sturm tobte unvermindert weiter, schüttelte sein Zelt und drang in eisigen Böen durch sämtliche Ritzen, bis die Flammen des Feuers zu gefrieren schienen. Seine verkrüppelten Beine taten in der Kälte derart weh, daß es sich anfühlte, als nagten Ratten an seinen Knochen, und ein schrecklicher Schmerz nagte an seiner Leber.
    Es war ein neuer Schmerz, einer, der Changar Angst einjagte, weil er keine Zauberformel hatte, um

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