Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
halb erfrorenen Fingerspitzen anzuregen. Seine wollenen Beinlinge und die Tunika waren vom geschmolzenen Schnee durchnäßt, und winzige Wasserperlen rannen wie Tränen über seine Wangen, aber sein Mund war wie gewöhnlich zu einem Lächeln verzogen.
Changar hob mit seiner freien Hand einen Stock vom Boden auf und stocherte ärgerlich im Feuer. Die Miene eines Kriegers sollte undurchdringlich sein – grimmig, ausdruckslos, finster –, aber Keru grinste so häufig, daß es ein Wunder war, daß ihn seine eigenen Männer nicht für schwachsinnig hielten. Obwohl Changar es unzählige Male versucht hatte, war es ihm nie gelungen, dem Jungen diese übermäßige Heiterkeit auszutreiben.
Keru lehnte den angebotenen Trinkschlauch mit einer Handbewegung ab und erklärte Changar, er wolle ihm zuerst etwas ganz Besonderes zeigen, bevor er trinken würde – wobei der springende Punkt natürlich der war, daß er, nachdem er getrunken hatte, nicht mehr in der Verfassung sein würde, irgend jemandem irgend etwas zu zeigen.
»Was denn?« fragte Changar. Der Junge war den ganzen Tag mit seinen Kriegern unterwegs gewesen und brachte, wenn seine Streifzüge erfolgreich gewesen waren, oft Geschenke mit. »Hast du mir endlich eine goldene Halskette mitgebracht, um diese kümmerliche Kette aus Fuchszähnen und Kupferperlen zu ersetzen?
Keru lachte, setzte sich, streckte seine Füße Richtung Feuer und begann, seine Zehen zu wärmen. »Nein, Onkel Changar, ich habe dir kein Gold mitgebracht, sondern etwas sehr viel Selteneres.« Seine Stimme war freundlich, und er sprach Hansi wie seine Muttersprache. Manchmal, wenn Keru zu reichlich von dem mit Anis gewürzten Gebräu getrunken hatte, wurden seine Pupillen ganz weit, und er fiel in die Sprache seiner Kindheit zurück, die er ebenfalls perfekt beherrschte. Changar wäre es eigentlich lieber gewesen, Keru hätte das Sharanische vergessen, eine alberne, singende Sprache, die Changar immer an das Zwitschern von Vögeln erinnerte. Womöglich würde sich jedoch ein solches Talent eines Tages als nützlich erweisen, deshalb hatte er die Muttersprache nicht aus dem Gedächtnis des Jungen ausgelöscht wie so viele andere Dinge.
»Seltener als Gold, sagst du?«
»Ja, Onkel, sehr viel seltener.«
Da Changar sich nichts Selteneres als Gold vorstellen konnte, bedeutete er Keru endlich mit seiner Überraschung herauszurücken. Keru hob seinen Lederbeutel auf, zog ihn zu sich heran und löste die Schnur. Er griff hinein, hielt für einen Moment dramatisch inne, zog dann den Pelz eines großen weißen Tieres heraus und warf ihn Changar in den Schoß. Changar blickte hinunter auf den Kopf eines weißen Bären mit geöffneter Schnauze und scharfen Fangzähnen. Die Schnauze des Bären ruhte an Changars Hüfte, und seine Zähne glänzten im Licht des Feuers, als wären sie im Begriff, sich durch seine Haut zu graben und seine Leber herauszureißen. Mit einem panischen Aufschrei stieß Changar das weiße Bärenfell beiseite und wich hastig mit Hilfe seiner Arme zurück, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Schaff den verfluchten Pelz hier raus!« brüllte er. »Nimm ihn weg! Schaff ihn sofort aus meinem Zelt!«
Keru hatte seinem Onkel mit dem Geschenk eine Freude machen wollen, er war erschrocken und verwirrt über dessen Reaktion. Er sprang auf die Füße, schnappte sich das Bärenfell, riß die Zeltklappe auf und warf den kostbaren Pelz in den Schnee. Nachdem er die Zeltklappe wieder gesichert hatte, wandte er sich zu Changar um und sah, daß dieser blau im Gesicht war und am ganzen Körper zitterte wie ein Mann, dessen Herz ausgesetzt hatte.
»Onkel!« rief er alarmiert. Er rannte zu dem alten Mann, um ihn näher an das wärmende Feuer zu ziehen, aber Changar stieß ihn weg.
»Laß mich in Ruhe! Faß mich nicht an!«
»Aber, Onkel
»Geh weg, oder ich schwöre bei Choatk und allen Dämonen des Höllenreichs, daß ich dich in eine hirnlose Fledermaus verwandeln werde! «
Keru glaubte zwar nicht, daß Changar ihn in eine Fledermaus verwandeln konnte, aber er begriff, daß er unbeabsichtigt etwas Schlimmes angerichtet hatte, deshalb wich er ein paar Schritte zurück und wartete ängstlich auf eine Erklärung. Nach einer Weile hörte Changar endlich auf zu zittern. »Kersek«, befahl er.
Keru nahm einen zweiten Schlauch von der Zeltstange, der prall gefüllt mit Kersek war, und reichte ihn seinem Onkel. Changar zog den Stöpsel aus dem Schlauch, trank einen großen Schluck, kroch wieder zum
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