Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Bären, der meine Leber frißt, und am nächsten Abend bringst du mir ein weißes Bärenfell. Das kann doch kein Zufall sein. Es muß deine hinterhältige Hexe von einer Mutter sein, die versucht, dich als Werkzeug zu benutzen, um mich umzubringen. Sag mir, erscheint sie dir immer noch in deinen Träumen?«
Keru blinzelte und wandte den Blick ab. »Nein«, erwiderte er tonlos.
»Du würdest mich doch nicht belügen, oder?«
»Nein, Onkel Changar. Mutter kommt nicht mehr zu mir, wenn ich schlafe.«
»Und deine Zwillingsschwester? Geht sie durch deine Traumwelt?«
»Nein. Luma war nicht oft im Traum bei mir. Und jetzt kommt sie überhaupt nicht mehr.«
»Du weißt, daß die beiden sich wünschen, du wärst tot?« »Ja, ich weiß, Onkel.«
»Du weißt, daß dein Miststück von Mutter gerade im Begriff war, dich diesem abscheulichen Dämon von Schlangengöttin zu opfern, als ich kam, um dich zu retten?«
»Ja, Onkel.«
»Du weißt, daß alle Mutterleute Männer hassen. Daß überall dort, wo Frauen herrschen, Männer wie Sklaven behandelt werden, nur dazu da, Kinder zu zeugen, zu dienen und Frauen Lust zu bereiten. Du weißt, daß, wenn deine Mutter stirbt, deine Schwester Häuptling von Shara werden und auf dem Ehrenplatz sitzen wird, auf dem du eigentlich sitzen solltest; und du weißt, daß, wenn eine von ihnen jemals erfährt, daß du noch lebst, sie Kriegerinnen ausschicken werden, um unerbittlich Jagd auf dich zu machen und deinen Kopf und deine Eier als Trophäen zurückzubringen.«
»Aber welche Bedrohung stellen diese Kriegerinnen für uns dar, Onkel?« fragte Keru störrisch. »Ich habe nie so ganz verstanden, warum wir Frauen fürchten müssen.«
»Weil«, erwiderte Changar, »wie ich dir schon unzählige Male erklärt habe, die Kriegerinnen von Shara keine Frauen sind, wie wir sie kennen. Diese Frauen sind von Dämonen besessen. Es sind Frauen, die wie Männer auf Schlachtrössern reiten; Frauen, die mit Bögen schießen und Speere schleudern können. Bevor sie in eine Schlacht reiten, trinken sie irgendeinen verfluchten Trank, der ihr Haar in Schlangen verwandelt und ihre Augen in Stein. Sie stürmen durch den Wald, fallen über Tiere her und essen sie bei lebendigem Leib. Und wenn sie in ihrer Raserei auf einen Mann staßen, verschlingen sie ihn ebenfalls.«
Keru überlief ein Schauder. »Ich kann mich an solche Frauen in Shara nicht erinnern. Alle, an die ich mich erinnere, waren freundllch.«
»Auch das, mein Junge, habe ich dir schon so oft erklärt, daß ich es allmählich leid bin. Du kannst dich nicht mehr daran erinnern, weil deine Mutter dich mit dem Fluch des Vergessens belegt hat. Aber mit meiner Hilfe wirst du dich an die Grausamkeit der Frauen von Shara erinnern, wirst dich daran erinnern, wie deine Mutter dich verachtete, als du ein Kind warst, und wie all ihre Liebe deiner Schwester galt.« Changar griff nach dem Schlauch mit dem schwarzen, mit Anis gewürzten Gebräu, zog den Stöpsel heraus und bot Keru den Schlauch an.
»Vergessen wir den Fehler, den du gemacht hast, als du mir den weißen Bärenpelz brachtest: Ich weiß, du hast dir nichts Böses dabei gedacht, und es wird höchste Zeit für unser gemeinsames abendliches Vergnügen. Hier, trink!«
Keru griff eifrig nach dem Schlauch, legte den Kopf in den Nacken und trank einen großen Schluck. Der Anisgeschmack explodierte in seinem Mund. Tief im Zentrum des Trankes war etwas, das wie die sanfte, beruhigende Stimme einer schönen Frau wirkte. Fast augenblicklich schien das Licht des Feuers weicher zu werden, und ein warmes, prickelndes Gefühl breitete sich von seiner Kehle bis hinunter in seine Zehenspitzen aus. Keru seufzte, wischte sich den Mund ab und setzte den Schlauch ab in der Absicht, ihn wieder zu verstöpseln, aber er griff nur widerstrebend nach dem Stöpsel. Er liebte die süße Trägheit, die seinen Körper erfüllte, wenn er von dem Zaubertrank getrunken hatte. Hätte Changar ihm das Gebräu vorenthalten – wie er es häufig tat, wenn er verärgert über ihn war – hätte Keru nicht einschlafen können.
»Trink ruhig noch mehr«, sagte Changar mit ungewöhnlicher Großzügigkeit. Nachdem Keru ein zweites Mal getrunken hatte, bot Changar ihm sogar noch einen dritten Schluck an und lehnte sich dann zurück, um abzuwarten.
Wer war dein Vater?
»Mein Vater ist Stavan.«
Dein Vater war Vlahan. Wiederhole die Worte!
»Vlahan war mein Vater. Mein Vater war Vlahan.«
Gut. Wer ist deine Mutter?«
»Marrah
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