Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
aus Shara.«
Liebt deine Mutter dich?
»Ja, Onkel Changar.«
Nein, sie haßt dich.
»Meine Mutter haßt mich.«
Sie will deinen Tod.
»Sie will meinen Tod.«
Hör auf zu weinen. Weinen ist was für Frauen. Männer weinen nicht. Du bist ein Krieger, und dein Herz ist hart und voller Haß. Du haßt Marrah, deine elende Hexe von einer Mutter; du haßt die Mutterleute; du willst, daß Shara in Flammen aufgeht. Was hast du da in der Hand?
»Nichts.«
Doch, es ist ein Dolch. Sieh dir die Klinge an. Sieh dir das Heft an. Kannst du ihn jetzt sehen, Keru?
»Ja, Onkel Changar.«
Kannst du deine Mutter vor dir stehen sehen?
»Ja, Onkel Changar.«
Was tut sie gerade?
»Sie weint vor Einsamkeit.«
Ihre Tränen sind Gift. Es sind die Tränen einer hinterhältigen Schlange. Stoß ihr den Dolch ins Herz.
»Ich kann nicht.«
Tu es!
»Nein. Ich nehme ihre Hand. Ich küsse sie auf die Wange. Ich sage: ›Mutter, ich habe dich lieb. Mutter, ich vermisse dich..
Sei kein Narr. Sie ist kein menschliches Wesen. Ihre Haut ist so
kalt wie die Haut einer Schlange. Schneide ihr das Herz heraus und gib es mir!
»Nein!«
Ich werde deinen Willen brechen, Keru. Mit der Zeit wirst du alles tun, was ich dir sage.
»Aber nicht das hier.«
Auch das hier. Du wirst ihr das Herz aus der Brust schneiden. Und sogar noch Schlimmeres tun.
»Was könnte noch schlimmer sein als ein Sohn, der seiner Mutter das Herz aus der Brust schneidet?«
Schau genau hin. Siehst du diesen schwarzen Beutel in meiner Hand?
»J a .«
Weißt du, was in dem Beutel ist?
»Nein.«
Deine Seele, Keru. Ich halte deine Seele in diesem schwarzen Beutel gefangen.
»Gib mir meine Seele zurück, Onkel Changar. Bitte. Es macht mir angst, ohne Seele zu leben.«
Nein, Keru. Deine Seele ist mein. Sie gehört mir. Ich werde sie dir niemals zurückgeben. Und jetzt wach auf, und wenn du die Augen öffnest, wirst du dich an all dies hier nicht mehr erinnern.
Keru gähnte und schlug die Augen auf. Das Feuer war zu einem Häufchen glühender Kohlen heruntergebrannt, und der Sturm war abgeflaut. Keru streckte sich und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Ich muß eingedöst sein«, sagte er.
»Das bist du«, erwiderte Changar. Er griff nach einem Stock und stocherte in den Kohlen, um das Feuer neu zu entfachen. »Der Sturm scheint sich gelegt zu haben, während du die halbe Nacht geschnarcht hast. Höchste Zeit, in dein Zelt zurückzukehren und die Füße deiner Konkubinen zu wärmen.«
»Warum haben Frauen eigentlich immer so kalte Füße, Onkel Changar?« fragte Keru scherzhaft, als er seinen Umhang umlegte und die Handschuhe überstreifte.
Changar lächelte. »Das ist eines von Gott Hans großen Mysterien«, erklärte er.
Gegen Tagesanbruch, als Keru schon seit Stunden behaglich zwischen seinen beiden Konkubinen schlief, war Changar noch immer wach. Er starrte in das Feuer und ging im Geist noch einmal die Antworten durch, die Keru ihm gegeben hatte. In all den Jahren hatte sich der Junge stets geweigert, seiner Mutter den imaginären Dolch ins Herz zu stoßen, wenn er unter dem Einfluß des berauschenden Trankes stand, und seine Halsstarrigkeit machte Changar rasend; an diesem Abend hatte Keru jedoch etwas gesagt, das Changar mit neuer Hoffnung erfüllte: er hatte ihn angefleht, ihm seine Seele zurückzugeben. Diese Wende der Ereignisse freute Changar ganz besonders, denn wenn Keru seine Seele zurückverlangte, bedeutete das, daß er endlich daran glaubte, überhaupt eine zu besitzen.
Die Vorstellung von einer Seele stammte nicht von Changar. Die Hansi hatten immer schon geglaubt, daß es einen unsichtbaren Teil des Menschen gebe, der nach seinem Tod weiterlebte – in Gott Hans paradiesischen Gefilden, wenn der Verstorbene ein tapferer Krieger war, oder in Choatks finsterem Höllenreich, wenn er ein Feigling war. Die Vorstellung von einer persönlichen Seele war eine der größten Erfindungen der Nomaden, bedeutender noch als die Zähmung des Pferdes. Doch Changar war noch einen Schritt weitergegangen. Er hatte gefolgert, daß, wenn ein Mann eine Seele besäße, ein anderer Mann womöglich imstande sein könnte, sie ihm zu stehlen und als Geisel zu behalten. Ein Zauberpriester wie Changar könnte viele Seelen besitzen, so, wie ein mächtiger Häuptling viele Sklaven besaß; und ähnlich wie ein solcher Häuptling könnte Changar jene Seelen seinem Willen unterwerfen.
Seit dem Augenblick, als Vlahan ihm den vierjährigen Keru in die Arme gedrückt und
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