Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
nicht einmal ein Blatt bewegte, das ihre Anwesenheit verraten hätte.
Sobald die Nomaden in Sicht kamen, würden Ursha, Melang, Trithar und Lelsang sie angreifen und auf Kandars Gruppe zutreiben. Die würden sie sofort umzingeln und ihnen keine Gelegenheit zur Flucht geben. Luma mußte zugeben, daß sich der Plan durchaus vernünftig anhörte, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob er funktionierte. Nicht nur, daß sie noch nie gegen Nomaden gekämpft hatte, sie hatte auch, seit sie und Keshna sich den Nattern angeschlossen hatten, keine feindlichen Krieger mehr zu Gesicht bekommen. Der Sommer war ungewöhnlich friedlich gewesen, und soweit es Luma und Keshna betraf, würde er auch friedlich bleiben. Denn obwohl sie bis an die Zähne bewaffnet waren, würden sie heute nicht kämpfen. Kandar – der sie noch für zu unerfahren hielt – hatte ihnen befohlen, den Überfall nur zu beobachten. Luma war sehr enttäuscht gewesen, als sie erfuhr, daß sie bei ihrer allerersten Schlacht untätig in einem Versteck kauern sollte, statt zu kämpfen, und Keshna war furchtbar wütend gewesen; aber seit sie mit den Nattern ritten, hatten sie Kandars Befehle stets widerspruchslos befolgt – was nur gut war, denn hätten sie das nicht getan, hätte Kandar sie kurzerhand aus dem Verband geworfen. Er mochte zwar derart in Keshna verliebt sein, daß er kaum den Blick von ihr abwenden konnte, doch er ließ ihr niemals irgend etwas durchgehen.
Luma wedelte eine Fliege von Shalrus linkem Ohr und dachte an die diversen, höchst raffinierten Dinge, die Keshna tat, um den armen Mann zu quälen. Nachts ging sie auf Kandars Seite des Feuers, breitete ihre Schlafdecke neben ihm aus und flüsterte ihm mit süßer Stimme Worte zu, bis seine Stimme barsch wurde vor hoffnungsloser Leidenschaft. Jeder wußte, daß sie keine Lust miteinander teilten, denn wenn zehn Leute in einem engen Kreis um das Feuer schliefen, gab es keine Geheimnisse; aber Kandar versuchte Keshna immer wieder dazu zu bewegen, ihn zu lieben. Wenn Luma manchmal mitten in der Nacht aufwachte, konnte sie ihn eindringlich flüstern hören, und dann hörte sie Keshnas Lachen, so leicht und kalt wie frisch gefallener Schnee. Doch bei Tag behandelte Kandar Keshna wie alle anderen. Dafür achtete Luma ihn um so mehr. Denn es erforderte große Charakterstärke, Keshna zu lieben und nicht ihren Launen und Marotten nachzugeben.
Luma wedelte abermals eine Fliege von Shalrus Hals und beobachtete, wie die Vögel die letzten Ameisen aufpickten. Sie hätte es Keshna gegenüber niemals zugegeben, doch allmählich war sie Kandar dankbar, daß er ihnen befohlen hatte, sich aus dem Überfall herauszuhalten. Er hatte recht: Sie und Keshna mochten vielleicht lederne Beinlinge anziehen, ihr Haar zurückbinden und sich mit den Symbolen der Göttin bemalen, aber Tatsache war, daß sie, was das Kämpfen betraf, Babys waren. Je länger Luma in ihrem Versteck saß und auf die Nomaden wartete, desto mehr Zeit hatte sie, darüber nachzudenken, wie wenig sie tatsächlich wußten. Die Nomaden vom Grünen Strom hereinzulegen und ihnen ihre Pferde zu stehlen war das eine. Etwas völlig anderes war es, sich gegen Männer zu behaupten, die andere Menschen mit Pfeilen durchbohrten, seit sie alt genug waren, um eine Bogensehne straff zu ziehen. Luma war sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie nicht in Panik geraten oder einen tödlichen Fehler machen würde, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf einen feindlichen Krieger stieß. Sie hoffte verzweifelt, daß sie tapfer sein und sich nicht blamieren würde.
Die Zeit verging quälend langsam. Einmal raschelte etwas im Gebüsch, und Luma fuhr erschrocken zusammen, aber es war nur ein Eichhörnchen. Sie leckte ihre Lippen und versuchte zu schlucken, doch ihr Herz hämmerte aufgeregt, ihre Kehle war staubtrocken, und alles schien ein bißchen zu hell.
Laß die Nomaden bald kommen!
betete sie und beugte sich instinktiv im Sattel vor, als wolle sie gegen Kandars Befehl vorwärtsstürmen, obwohl sie keineswegs die Absicht hatte, irgend etwas dergleichen zu tun. Shalru, der ihre Unruhe spürte, stampfte plötzlich mit dem Huf auf. Luma zuckte bei dem Geräusch zusammen und blickte zu Keshna hinüber, die sie mißbilligend anfunkelte.
Beruhige dein Pferd,
bedeutete Keshna ihr.
Luma fühlte, wie sie vor Verlegenheit rot anlief. Kandar hatte allen strikte Anweisung erteilt, absolute Ruhe zu bewahren, und jetzt das! Sie hoffte inständig, Kandar hatte das Stampfen nicht
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