Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
ihm befohlen hatte, gut auf ihn aufzupassen, hatte Changar beharrlich darauf hingearbeitet, die Seele des Jungen zu besitzen. Er hatte herumexperimentiert, bis es ihm gelungen war, den Trank zu brauen, der Keru in tiefe Trance versetzen würde; er hatte gelernt, seine Gedanken in Kerus Ohr zu flüstern, und er hatte eine Methode ersonnen, Keru Dinge vergessen zu lassen, die er niemals hätte vergessen dürfen, und ihn dazu zu bringen, sich an Dinge zu erinnern, die nie geschehen waren.
    Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, und es hatte viele Rückschläge gegeben, weil die Mutterleute nicht einmal ein Wort für »Seele« hatten. Als Changar Keru entführt hatte, glaubte der Junge fest daran, daß der weibliche Dämon, den die Sharaner die Göttin Erde nannten, die Menschen bei ihrem Tod in ihren Schoß aufnahm, sie veränderte und sie in neuer Gestalt auf die Erde zurückschickte. Laut Auskunft der Gefangenen, die Changar verhört hatte, glaubten die Bewohner der Mutterländer daran, daß die Verstorbenen als Vögel, Säugetiere, Insekten oder Fische – oder sogar als menschliche Babys – wiedergeboren wurden, sich aber nicht mehr daran erinnern konnten, wer sie einst gewesen waren oder was sie getan hatten, als sie auf Erden wandelten.
    Die Vorstellung, all der Ruhm eines Mannes und all sein Erinnerungsvermögen sterbe mit ihm zusammen, wirkte auf Changar höchst abstoßend. Aber sie war tief in dem Jungen verwurzelt, der offensichtlich Zeuge von Bestattungszeremonien geworden war, bei denen man die Leichen der Verstorbenen den Vögeln überließ, damit sie das Fleisch von ihren Knochen pickten, und die Knochen dann in ein der Form eines Mutterleibes nachempfundenes Grab legte.
    An diesem Abend hatte Keru jedoch wie ein Nomade gesprochen. Er hatte den imaginären schwarzen Beutel gesehen und begriffen, was er enthielt.
Gib mir meine Seele zurück, Onkel Changar,
hatte er gebettelt.
Es macht mir angst, ohne Seele zu leben.
    Changar lächelte bei der Erinnerung daran, wie zu Tode verängstigt Keru bei diesen Worten geklungen hatte. Furcht ist eine großartige Waffe, dachte er, besser und treffsicherer als jeder Speer. Ein Speer traf einen Mann in den Arm oder ins Bein oder er verfehlte ihn sogar, aber Furcht traf ihn immer mitten ins Herz.
     

8. KAPITEL
     
    In den Mutterländern
     
    Es war Spätsommer, und die riesigen Wälder, die sich von der Steppe bis zum Süßwassersee erstreckten, hatten die vielfältige Farbenpracht des herannahenden Herbstes angenommen. An einem heißen Tag des Monats, den wir September genannt hätten, saß Luma auf Shalru, ihrem rotbraunen Wallach, gut versteckt hinter einem schützenden Schirm wilder Weinstöcke und wartete darauf, einen Stoßtrupp von Nomadenkriegern zu überfallen, die gerade Vieh aus einem nahegelegenen Dorf gestohlen hatten. Luma war nicht allein – die Nattern lagen überall um sie herum im Hinterhalt –, doch als sie reglos im Schatten der Büsche wartete und beobachtete, wie die Fliegen um Shalrus Ohren summten, fühlte sie sich einsam und verwundbar.
    Keine vierzig Schritte von ihr entfernt waren acht Nattern im Gestrüpp verborgen, aber sie verhielten sich so still, daß eine Schar kleiner brauner Vögel herbeigeflogen kam, um die Ameisen aufzupicken, die den Pfad hinaufkrabbelten. Das einzige menschliche Geräusch, das Luma hören konnte, war das Klopfen ihres eigenen Herzens und manchmal ein leises Klatschen, wenn Keshna eine Fliege vom Hals ihrer kastanienbraunen Stute verscheuchte. Ab und zu blickte Luma zu Keshna hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie noch da war. Keshna zwinkerte ihr jedesmal zu, wenn sie ihren Blick auffing, und grinste, als wollte sie sagen:
Nomaden aus dem Hinterhalt zu überfallen macht Spaß, nicht?
Luma war zwar nicht davon überzeugt, daß Keshna so mutig war, wie sie sich zu geben versuchte, aber selbst wenn ihre Tapferkeit nur vorgetäuscht war, war es doch tröstlich, sie in der Nähe zu wissen.
    Nervös nahm Luma Shalrus Zügel zwischen die Zähne, um die Hände frei zu haben, wenn es zum Kampf kam, dann nahm sie sie wieder heraus, weil sie sich doch etwas lächerlich vorkam. Sie überprüfte ihre Bogensehne, tastete nach ihrem Dolch, zählte ihre Pfeile, kratzte sich im Nacken und blickte den Pfad hinunter zu dem Dickicht, wo sich Ursha, Melang, Trithar und Lelsang versteckten. Ein Stück weiter voraus, wo der Pfad abbog und auf den Bach stieß, lagen Endah, Garang, Clarah und Kandar auf der Lauer, obwohl sich

Weitere Kostenlose Bücher