Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
übrigen Nattern ihre Pferde zum Abkühlen in einen nahegelegenen Bach führten. Der Bach war schmal und am Grund mit kleinen Kieselsteinen übersät. Das Wasser floß über die Hufe der Pferde und benetzte ihre Fesselgelenke. Luma bespritzte Shalrus Beine mit Wasser, ließ ihn jedoch nur wenig trinken, weil zu viel Wasser nach einem solchen Galopp nicht gut war. Während sie Wasser mit den hohlen Händen schöpfte, um seinen Hals zu befeuchten, dachte sie darüber nach, wie seltsam es war, die Fährte eines Mannes zu verlieren, obwohl man ihm direkt auf den Fersen war. Als sie das Endah gegenüber erwähnte, räumte diese ein, daß es tatsächlich merkwürdig sei.
»Ich habe das bisher nur selten erlebt«, erklärte Endah. Sie war eine vollbusige Frau mit einer großen Nase, dichtem, glattem Haar und einer Lücke zwischen den Schneidezähnen, breit genug, um einen Eichenzweig dazwischenzuschieben. Obwohl sie seit sieben Jahren mit den Nattern ritt, sah sie meistens ziemlich vergnügt aus, als würde sie gerne ein Baby in den Armen wiegen oder bei einem Fest tanzen. Doch sie war durch und durch Kriegerin, und als sie von dem entwischten Nomaden sprach, verengten sich ihre Augen zu Schlitzen, und auf ihrem Gesicht erschien ein grimmiger Ausdruck. »Ich glaube, wir werden feststellen, daß er uns mit dem Klettentrick hereingelegt hat.«
»Der Klettentrick? Was ist das denn?« wollte Luma wissen. »Das wirst du bald erfahren«, versprach Endah.
Als Luma und die anderen ihre Pferde aus dem Bach führten, kehrten Kandar und Trithar mit dem braunen Wallach des Nomaden zurück. Sie hatten ihn in einem Dickicht gefunden, wo er sich am Stamm einer Weide gescheuert hatte, um seinen Sattel loszuwerden. Das arme Tier sah schrecklich aus: naß vor Schweiß, mit wild rollenden Augen und so erschöpft, daß es sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die Männer hatten keine Spur von dem Nomaden gefunden, sondern nur sein Pferd. Sie waren – genau wie Endah es vorausgesagt hatte – hereingelegt worden. Auf seiner Flucht vor den Nattern hatte der Nomade eine Handvoll stacheliger Kletten gepackt und unter seinen Sattel geschoben. Dann hatte er sich mit einem kühnen Sprung von seinem galoppierenden Pferd gestürzt und sich im Unterholz versteckt. Währenddessen war das völlig verängstigte Pferd weiter durch den Wald gestürmt. Mit anderen Worten, die Nattern hatten ein reiterloses Pferd verfolgt, während der Nomadenkrieger unbehelligt hatte fliehen können, ein ganz simpler und zugleich höchst raffinierter Trick. Luma ertappte sich dabei, daß sie unwillkürlich die Schläue des Kriegers bewunderte.
Langsam ritten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren, und hielten nach einer Spur des Kriegers Ausschau, aber er mußte ein alter Hase sein, was den Klettentrick anging, denn nicht einmal Kandar konnte die Stelle entdecken, wo er sich von seinem Pferd getrennt hatte. Als sie wieder den Bach erreichten und zum Schauplatz des Kampfes kamen, lagen die drei Leichen noch immer an genau derselben Stelle, wo sie gefallen waren.
Beim Anblick der toten Krieger – von denen einer durch ihren Pfeil den Tod gefunden hatte –, überlief Luma ein Frösteln, und sie fühlte sich plötzlich ganz seltsam und sehr alt, als sei ihre Kindheit nun endgültig und unwiederbringlich vorbei. Ein Teil von ihr wollte absitzen, den Toten herumdrehen und sein Gesicht betrachten; und ein anderer Teil von ihr wollte so schnell wie möglich wegreiten und ihn für immer aus ihrer Erinnerung verbannen. Bevor sie jedoch das eine oder das andere tun konnte, war Keshna bereits aus dem Sattel gesprungen und rannte zu den Toten, schnappte sich einen ihrer sirrenden Bögen und schwenkte ihn mit einem triumphierenden Schrei über dem Kopf.
»Möge dieser Bogen, der einst friedliebende Sharaner tötete, jetzt Nomaden töten!« verkündete sie. Es war ein hehrer Gedanke, ein Ausspruch, dem sich die Nattern bedenkenlos anschließen konnten; doch was Keshna als nächstes tat, war dermaßen untragbar, daß es um ein Haar ihren Rauswurf aus dem Verband bedeutete. Sie warf Luma den sirrenden Bogen zu und zog den Dolch, den sie aus dem Grab des Häuptlings geraubt hatte, aus ihrem Gütel. »Tod den Invasoren! « schrie Keshna, ließ sich auf die Knie fallen und machte sich daran, einem der gefallenen Nomaden den Kopf abzutrennen.
»Nein!« brüllten die Nattern entsetzt, als Keshna die scharfe Dolchklinge über die Kehle des Kriegers zog. »Nein, nicht! «
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