Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
das hast du vermutlich nicht.« Und eine andere Stimme fügte hinzu: »Es gibt für alles ein erstes Mal.«
    Luma wußte, die Stimmen waren mitfühlend, aber ihre Wärme erreichte sie nicht. Sie ließ sich auf die Knie fallen, packte den Krieger bei den Schultern und drehte ihn herum. Der Mann hatte grobe Züge, einen rötlichen Bart und eine pockennarbige Nase. Sein Haar war mit dem roten Ocker versteift, den die Nomaden im Kampf oft benutzten, und seine starren, leblosen Augen sahen blaß und kalt aus. Es war nur ein klein wenig Blut an seinem Hals und ein winziger, verkrusteter Tropfen in seinem Mundwinkel, und doch war er zweifellos tot. Luma fragte sich, ob er wohl Frauen und Kinder hatte und wie ihnen wohl zumute war, wenn sie vergeblich auf seine Rückkehr warteten.
    »Es tut mir leid«, flüsterte sie, und dennoch konnte sie keine Reue über ihre Tat empfinden, nur eine lähmende, niederdrückende Dumpfheit, als wäre die Welt plötzlich aller Farbe beraubt worden. Sie schloß die Augen, erhob sich auf die Füße und wandte sich zu Kandar um.
    »Ist das hier nicht im Grunde das gleiche wie Mord?« Es war kein Vorwurf; sie wollte es wirklich wissen.
    Ranala hätte ihr energisch befohlen, sich wieder in den Sattel zu schwingen und aufzuhören, dummes Zeug zu reden, aber Kandar war nicht deswegen der Anführer der Nattern geworden, weil man ihn fürchtete, sondern weil er verstand, was seine Krieger tief im Innersten bewegte.
    »Du hast ihn nicht ermordet«, sagte er ruhig. »Du hast ihn in einem fairen Kampf getötet. Sieh dir seine Weste an: Du siehst, wie viele Menschenleben er auf dem Gewissen hat.«
    »Aber ich habe ihn nicht wegen all dieser Menschenleben getötet. Ich habe ihn getötet, weil er ein paar Rinder gestohlen hat. Sag mir, Kandar, wie kommst du mit dir selbst ins reine, nachdem du einen Mann getötet hast, dessen einziges Verbrechen darin bestand, daß er hungrig war?«
    Kandar sah überrascht aus. »Glaubst du, daß du das getan hast? Denkst du, du hättest ihn wegen eines Diebstahls getötet?«
    Luma nickte.
    Inzwischen waren die Nattern bis auf Keshna abgesessen und hatten sich um Luma und Kandar versammelt. Die Nattern waren eine eng miteinander verbundene Gemeinschaft; wenn einem von ihnen etwas zustieß, waren alle davon betroffen. Sie ritten zusammen, aßen zusammen und schliefen Seite an Seite. Wenn einer von ihnen starb, trugen die anderen schmale Armbänder aus geflochtenen Leinenstreifen um die Handgelenke. Diese Trauerarmbänder waren mit dem Symbol der Göttin Erde versehen und von den Priesterinnen von Shara gesegnet, sie wurden niemals abgelegt, bis sie morsch wurden und von selbst abfielen. Die Nattern wußten alles über den Tod, und sie wußten, wie es Luma bei der Vorstellung, einen Menschen getötet zu haben, ums Herz sein mußte.
    »Wenn diese Krieger nur Vieh gestohlen hätten«, sagte Endah ruhig, »hätten wir sie einfach gejagt, bis wir das Vieh zurückbekommen hätten. Wir hätten uns natürlich verteidigt, aber wenn sie geflohen wären, hätten wir sie nicht weiter verfolgt. Und wenn wir hätten vermeiden können, sie zu töten, dann hätten wir das getan.«
    »Aber diese Krieger hier haben etwas sehr viel Schlimmeres getan«, fügte Melang hinzu. Melang war ein kleiner, dunkelhaariger, liebenswürdiger Mann, der Luma oft an ihren Onkel Arang erinnerte, aber als er von den Nomaden sprach, schwang in seiner Stimme ganz und gar nichts Liebenswürdiges mit und er blickte die Toten mit einer Bitterkeit an, die allen Glanz aus seinen Augen vertrieb.
    »Was haben sie denn getan, was so schlimm war?« fragte Luma. »Du warst nicht dabei, als die Kundschafter kamen, um von den Viehdiebstählen zu berichten, nicht?« fragte Kandar.
    »Nein. Du hattest mich und Keshna in den Wald geschickt, um Feuerholz zu sammeln.«
    »Dann hast du also nie die ganze Geschichte gehört?«
    Luma, die gar nicht gewußt hatte, daß es eine »ganze Geschichte« gab, schüttelte den Kopf.
    »Schon mal von einem Dorf namens Ver Sha La gehört?«
    »Natürlich. Das ist doch der Ort, wo der wilde Honig herstammt – der spezielle Honig, den die Priesterinnen manchmal nehmen, wenn sie in Trance versinken. Ich war einmal mit meiner Mutter und meinem Bruder dort, als ich noch ein kleines Mädchen war. Wir haben den Honig in zwei großen Tonkrügen zurücktransportiert, und Mutter wollte Keru und mich nicht davon kosten lassen, obwohl ich noch genau weiß, daß wir sie anflehten, uns doch wenigstens

Weitere Kostenlose Bücher