Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
einmal einen Finger hineinstippen zu lassen. Sie warnte uns sehr eindringlich davor, daß die Bewohner von Ver Sha La ihre Bienen den Nektar von Rhododendren, Azaleen, Oleander und anderen giftigen Pflanzen sammeln ließen und daß der Honig so stark sei, daß zuviel davon tödlich sein könnte. Ich kann mich sogar noch daran erinnern, wie sie sagte, es wäre ihr sehr viel lieber gewesen, sie hätte den Nomaden bei der Belagerung von Shara statt des giftigen Muschelragouts wilden Honig vorsetzen können.«
»Wenn du dich noch an so vieles erinnern kannst«, meinte Kandar weißt du vielleicht auch noch, wie Ver Sha La ausgesehen hat.«
»Ich weiß noch, daß die meisten Mutterhäuser die Form von Bienenkörben hatten. Die Dorfbewohner hatten sie alle in einer anderen Farbe angestrichen. Einige waren sogar mit blauen und roten Streifen verziert. Im Zentrum des Dorfes stand eine große Statue von Susshaz, der Bienengöttin, und überall blühten Unmengen von Blumen. Die alten Männer und Frauen machten andauernd Musik, weil sie glaubten, der Klang der Flöten mache die Bienen glücklich und sie würden mehr Honig sammeln, wenn sie glücklich wären. Ver Sha La war wirklich ein hübsches Dorf.«
Die Nattern tauschten vielsagende Blicke, und eine Weile herrschte bedrücktes Schweigen. Schließlich sprach Endah. » Jetzt ist Ver Sha La nicht mehr so hübsch«, sagte sie.
Bevor sie den Schauplatz der Schlacht verließen, nahmen die Nattern den toten Nomaden alle Waffen ab, und Kandar verteilte die Messer, Bögen und Speere an diejenigen, die sie dringend brauchten. Sie zogen den Leichen jedoch nicht die goldenen Ringe aus den Ohren oder rissen ihnen die schmalen goldenen Armbänder von den Handgelenken, obwohl das weiche gelbe Metall auch in den Mutterländern zunehmend wertvoller wurde. Die Nattern waren keine Leichenschänder oder Diebe. Sie kämpften nur, um Shara und die umliegenden Dörfer zu verteidigen; und da die Nomaden glaubten, es sei wichtig für sie, reich geschmückt vor ihren Himmelsgott zu treten, war es nur anständig, sie ihren Schmuck mit ins Grab nehmen zu lassen. Ein Teil des Goldschmucks, den die Nomaden trugen, war jedoch eindeutig nicht dazu bestimmt, ins Paradies mitgenommen zu werden. Einer hatte einen Ring mit dem Abbild von Susshaz, der Bienengöttin, am Finger, und ein anderer – der Mann, den Luma erschossen hatte – trug eine kunstvoll gearbeitete, zwei Finger breite goldene Halskette. Sieben Priesterinnen tanzten über die gesamte Länge der Kette, ihre Hände segnend erhoben. Zwischen ihnen schwebten sieben heilige Bienen über sieben voll erblühten Oleanderblüten. Da sowohl der Ring als auch die Kette offensichtlich erbeuteter Tempelschmuck aus Ver Sha La waren, nahmen die Nattern die Stücke an sich, aber ansonsten nahmen sie nichts. Sie bestatteten ihre Feinde sogar in flachen Gräbern, indem sie sie auf Nomadenart flach auf dem Rücken liegend begruben und Erdhügel über ihnen aufschichteten.
Nachdem die Toten begraben waren, machten sie sich daran, die verschwundenen Pferde zu suchen. Die Packpferde aufzuspüren, erwies sich als relativ einfach. Eines der Tiere war leicht verletzt, und die anderen beiden waren in seiner Nähe geblieben; aber die Schlachtrösser waren sehr viel schwieriger auszumachen. Schließlich kehrte Trithar mit dem Braunen zurück, und eine Weile später kamen Endah und Melang mit dem Wallach mit dem weißen Stirnfleck am Zügel. Doch das vierte Pferd schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Das war eigenartig, denn einer der Hufe des Wallachs wies eine deutliche Deformierung auf, die es eigentlich hätte leichtmachen müssen, seiner Spur zu folgen. Aber seine Hufabdrücke endeten am Ufer des Baches unmittelbar hinter dem Weidenwäldchen, und selbst Kandar konnte seine Fährte nicht weiterverfolgen.
Luma beobachtete, wie Kandar in die Hocke ging und die Tiefe der Hufabdrücke mit den Fingern maß. Dann kehrte er zu der Stelle zurück, wo die Schlacht stattgefunden hatte, und maß auch dort die Abdrücke des Wallachs. »Das Pferd hat einen Reiter getragen, als es in den Bach gegangen ist«, erklärte er schließlich. Die Nattern, die im Kreis um ihn herum standen, nahmen diese Information mit Mißfallen auf.
»Dieser Krieger muß wieder hierher zurückgekommen sein.« »Die Pest über seine Kletten und seine Gerissenheit! « »Inzwischen ist er wahrscheinlich schon auf halbem Weg zum
Rauchfluß.«
»Oder auf halbem Weg zum Süßwassersee.« Kandar
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