Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
ziemlich lange gebraucht, du elender kleiner Bastard«, knurrte eine Männerstimme in gebrochener Alter Sprache. Die Alte Sprache war einst die Sprache des Handels und des Gottesdienstes gewesen, im Laufe des letzten Jahrzehnts jedoch war sie zur allgemein gebräuchlichen Sprache des Krieges geworden.
Brusang blickte hoch und sah einen großen Nomadenkrieger über ihm stehen. Seine Eckzähne waren säuberlich zu Spitzen abgefeilt, und der rote Ocker, der sein Haar versteifte, schien kürzlich erneuert worden zu sein. Auf seine linke Wange hatte irgendein Künstler – nach Brusangs Maßstäben ein ziemlicher Stümper – einen Geier tätowiert. Wären die Nattern dabeigewesen, hätten sie ihn wahrscheinlich als den Krieger wiedererkannt, der das Vieh von Ver Sha La gestohlen hatte und entkommen war, indem er Kletten unter den Sattel seines Pferdes geschoben hatte.
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Rahan«, sagte Brusang, als er sich vom Boden aufgerappelt hatte und seine Glieder nach gebrochenen Knochen abtastete. Die Bezeichnung »Rahan«, die Keshna benutzt hatte, um Kandar zu beleidigen, gefiel dem Nomadenkrieger. Das Wort bedeutete »Atem des Wolfes« oder »Sohn von Han«, und in den alten Zeiten war es nur als Anrede für den Großen Häuptling der Zwanzig Stämme gebraucht worden; doch mit der Zeit hatte der einst so ehrenvolle Titel seinen Glanz verloren, ähnlich einem Stück Silber, das durch unzählige Hände ging. Heutzutage gebrauchten Sklaven diese Anrede, wenn sie mit ihren Nomadeneigentümern sprachen, und inzwischen bedeutete sie nur noch soviel wie »Herr« oder »Gebieter«.
Der Krieger betrachtete Brusang und runzelte die Stirn. »Du siehst ja katastrophal aus. Wie eine Ratte, die von Hunden durch den Dreck geschleift wurde.«
»Lebt meine Mutter noch?«
»Wer weiß? Vielleicht hat Lrankhan sie inzwischen stranguliert. Es gibt nichts Nutzloseres als ein altes Weib, das nichts anderes tut, als um seine toten Verwandten zu flennen.«
»Er hat doch gesagt, er würde sie bis Sonnenuntergang leben lassen!« jammerte Brusang.
»Mein Bruder hat gesagt, er würde sie leben lassen,
wenn
du herausfändest, wer diese beiden Kriegerinnen waren, aber der Anblick deines ausgemergelten, schlammbespritzten Kadavers verrät mir, daß du kläglich versagt hast.«
»Aber ich habe doch gar nicht versagt!« protestierte Brusang. »Ich habe herausgefunden, wie sie heißen. Die eine, die das männliche Pferd mit dem roten Fell reitet ...«
»Den braunroten Wallach«, korrigierte der Krieger ihn. »... die den braunroten Wallach reitet, heißt ...«
»Sag mir bloß nicht ihren Namen! Wenn ich ihren Namen vor Lrankhan erfahre, wird er mich strangulieren, mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen und meinen Kopf als Futter für die Raben auf eine Stange aufspießen, obwohl ich sein einziger Bruder bin.« Er stieß Brusang mit dem stumpfen Ende seines Speeres gegen die Brust. »Los, beweg dich. Heute ist dein Glückstag. Mein Pferd ist in dem Weidenwäldchen dort drüben. Ich werde dich auf meinem Pferd ins Lager zurückbringen, damit du Lrankhan persönlich erzählen kannst, wer seine Schlachtrösser gestohlen hat. Mit etwas Glück schaffen wir es vielleicht sogar noch vor Sonnenuntergang.«
Lrankhan saß auf einem umgestürzten Baumstamm, beobachtete die Sonne und verfluchte sich selbst dafür, daß er so dumm gewesen war, sich von diesem kleinen Schlitzohr von Händler überlisten zu lassen. Die Mutterleute verehrten ihre Mütter – zumindest behaupteten das alle –, aber dieser kleine Gauner hatte sich eindeutig aus dem Staub gemacht und seine Mutter ihrem Schicksal überlassen. An sich wäre das nicht schlimm gewesen, denn Lrankhan hatte es noch nie etwas ausgemacht, eine feindliche Geisel zu opfern. Seine Geschicklichkeit im Umgang mit der Garotte war das einzige wirkliche Talent, das er besaß, und es machte ihm Spaß, Eindruck damit zu schinden. Aber wenn dieser Händler nicht bald aufkreuzte, dachte Lrankhan finster, kann ich meinen eigenen Dolch gegen einen Baum lehnen und mich in die Klinge stürzen.
Er war bereits als der schwachköpfige einäugige Häuptling, der gut die Hälfte der Schlachtrösser seines Stammes an zwei Frauen verloren hatte, zu trauriger Berühmtheit gelangt. Jetzt würde er seinen Ruhm dadurch vermehren, daß er sich von einem zahnlosen Zwerg hereinlegen ließ. Natürlich war der Händler kein Zwerg – nur klein und zierlich wie fast alle Mutterleute; und ihm
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