Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
fehlten auch nur deshalb ein paar Schneidezähne, weil Lrankhan sie ihm in einem Augenblick durchaus gerechtfertigter Ungeduld eigenhändig ausgeschlagen hatte; aber Lrankhan war im Moment nicht in der Stimmung, gerecht zu sein. Er fühlte sich zutiefst erniedrigt, verbittert und rachsüchtig, wie es einem ehemaligen Häuptling anstand, der in jedem Lager, das er betrat, zur Zielscheibe des Spotts wurde. Der einzige Grund, warum er noch immer Krieger zu befehligen hatte, war der, daß kein anderer Häuptling sie haben wollte. Deshalb folgten ihm die Nomaden vom Grünen Strom – oder das, was von ihnen noch übrig war –wie ein Rudel mißmutiger Hunde auf dem Rücken von Packpferden und trächtigen Stuten; und jedesmal, wenn Lrankhan vor einem richtigen Häuptling stand und ihn bat, ihm ein halbes Dutzend Schlachtrösser zu leihen, fühlte er, wie die haßerfüllten Blicke seiner eigenen Männer ihm ein Loch in den Hinterkopf bohrten.
Diesen Monat lebten die Krieger vom Grünen Strom und ihre halbverhungerten Familien von den Almosen eines Häuptlings namens Tanshan. Tanshan war ein fetter, selbstgefälliger Narr mit einem Gesicht wie ein kastrierter Schafbock und Augen wie ein Mädchen, aber er war nicht ein solcher Weichling oder ein solcher Narr, daß er sich seine Schlachtrösser von Frauen stehlen ließ, und er ließ keine Gelegenheit aus, um Lrankhan dies unter die Nase zu reiben. Als Lrankhan jetzt beobachtete, wie die Sonne unterging und der Himmel sich rötlich zu verfärben begann, wurde ihm bei dem Gedanken daran, wie erfreut Tanshan darüber sein würde, daß der Händler nicht zurückgekehrt war, regelrecht übel vor Demütigung.
Er war gerade aufgestanden, um zu seinem Zelt zu gehen und seine Garotte zu holen, als ein Reiter aus dem Wald galoppiert kam. Es war kein geringerer als sein einziger Bruder, Mershan, und hinter Mershan – auf- und abhüpfend wie ein Stein, der über eine Wasseroberfläche springt – hockte doch tatsächlich der elende kleine Bastard von einem Händler, auf den Lrankhan den ganzen Tag über gewartet hatte. Seine Stimmung schlug in Sekundenschnelle von völliger Verzweiflung in selbstgerechten Zorn um. Lrankhan marschierte zu Mershans (geliehenem) Pferd, zerrte den Händler an den Haaren aus dem Sattel und schüttelte ihn so heftig, daß seine Zähne klappernd aufeinanderschlugen. Dann stieß er ihn zu Boden.
»Wie heißen die beiden?« herrschte er den Händler an. »Wie heißen sie, du erbärmlicher kleiner Wicht, du Abschaum, du kümmerlicher Rattenpimmel von einem Mann?«
Brusang blickte Lrankhan mit glasigen Augen an und flehte innerlich, daß der Krieger ihn nicht noch einmal durchschüttelte. Zweimal an einem Tag an den Haaren gepackt zu werden war einfach zuviel für einen Mann, ein drittes Mal würde sicherlich tödlich sein. »Keshna, Tochter von Hiknak, und Luma, Tochter von Marrah, Königin von Shara!« keuchte er. »So lauten ihre Namen, Rahan. Das kann ich beschwören. Hier, sieh her.« Er kniete sich hin und legte seine Hände flach auf den Boden. »Ich schwöre es bei Ihrem geheiligten Körper.«
»Steh auf«, befahl Lrankhan und versetzte Brusang einen leichten Stoß mit seiner Stiefelspitze. Seine Stimme klang plötzlich fast liebenswürdig. »Ein Mann sollte nicht auf Dreck schwören, aber du hast deine Sache wirklich gut gemacht – so gut, daß ich nicht nur dein elendes kleines Leben verschonen werde, sondern dir auch deine Mutter zurückgebe. Keshna, sagst du? Hab' noch nie von ihr gehört. Aber Luma, Tochter von Marrah aus Shara, das ist natürlich etwas völlig anderes. Hat diese Luma meinen rotbraunen Wallach geritten, mein schwarzohriges Prachtstück?«
» Ja, Rahan.« Brusangs Stimme bebte vor Freude bei dem Gedanken, endlich wieder mit seiner Mutter vereint zu sein. »Luma, Tochter von Marrah, kämpft mit einem Verband von Sharanern, die sich ›Die Nattern‹ nennen. Die Nattern werden von einem Mann namens Kandar angeführt. Das sind diejenigen, die diese Krieger getötet haben, die Ver Sha La überfielen.« Er warf Mershan einen nervösen Blick zu. »Alle bis auf deinen heldenhaften Bruder, natürlich, der durch einen überaus glücklichen Umstand ...«
»Ver Sha La?« unterbrach Lrankhan ihn verwirrt.
»Das Dorf, wo wir das verdammte Vieh gestohlen haben.« Mershan spuckte auf den Boden, um die Nattern zu verfluchen und das Andenken seiner drei Kameraden zu ehren, die wegen ein paar lumpiger Beutel Fleisch hatten sterben müssen. »Ich
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