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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Malessa
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»guten« Opa aus? Dass er außer seiner Bequemlichkeit – Zeitung lesen auf dem Sofa, während die Enkel vor dem Fernseher sitzen, ist zweifellos gemütlicher, als in nasskaltem Winterwetter Schlitten zu fahren – auch seinen inneren Vorbehalt gegen das Gerührtsein überwindet, sein heimliches Schamgefühl vor Empathie und Enthusiasmus.

    »Oh Täler weit, oh Höh’n! / Du schöner grüner Wald / Du meiner Lust und Weh’n / andächt’ger Aufenthalt.« Ein enthusiastischer Seufzer des Romantikers Joseph von Eichendorff (1788-1857). Noch so ein ehemaliges Standardgedicht grinsender Gymnasiasten. Diejenigen älteren Nordic Walker oder Radwanderer, die es noch kennen, zitieren es mehr ironisch als andächtig, weil wir Menschen des 21. Jahrhunderts den Enthusiasmus als literarische Epoche abgehakt oder ins Fußballstadion verbannt haben. Hinter ihren blauspiegelnden Sonnenbrillen, grellbunten Sweatshirts und metallic schwarz schimmernden Leggins ähneln heutige Naturfreunde den Herren im Gehrock nicht im entferntesten, die auf Gemälden eines Caspar David Friedrich die Kreidefelsen von Rügen oder ein hinausfahrendes Schiff bei Sonnenuntergang bewundern. Tief beeindruckt und begeistert von der Natur ist der postmoderne Mensch, wenn sein Blutdruckmesser beim Joggen Normalwerte signalisiert
und der Bordcomputer des Mountainbike neue Rekordzahlen anzeigt.

    Begeisterung und Ergriffenheit – Theologen würden sagen: Faszinosum und Tremendum – im Sinne einer kindlichen Empfindsamkeit ist aber eine tiefe Sehnsucht von Männern. Verschüttet unter scheinbarer Empathielosigkeit und brummig-skeptischer Rationalität. Verheimlicht bis zum geht-nicht-mehr. Aber real vorhanden, vermute ich. Nun kann sich aber niemand auf Befehl freuen und auch per Willensanstrengung nur schwer »für etwas begeistern«. Ehrlicherweise jedenfalls nicht. Manchmal klagen Frauen darüber, ihr Mann »könne sich für gar nichts mehr begeistern«. Gemeint ist möglicherweise auch: »Ich kann ihn für gar nichts mehr begeistern.« Vielleicht aber können das diejenigen am besten, die noch am wenigsten können: die Enkel. »Ich hab mich gefreut wie ein Kind«, sagt der vernünftige, stets zweckmäßig handelnde Mann, und diese umgangssprachliche Wendung soll die Intensität und die Spontaneität seines irrationalen Enthusiasmus’ sowohl erklären als auch ein wenig entschuldigen. Kleine Kinder dürfen das nämlich. Hellauf begeistert sein. In kreischenden Jubel, in wortlose Juchzer des Glücks ausbrechen, mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem erzittern vor Faszination. Als Baby in der Wiege den wandernden Lichtfleck auf der Bettdecke bestaunen, als Kleinkind den grüngolden schimmernden Käfer bewundern, als Schulkind das Rauschen der Kiefern und den Geruch von Bärlauch, Pilzen und Ackerboden abenteuerlich finden.

    »Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen Hut«, schreibt Erich Kästner. »In der Schule nötigte man
sie von der Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn sie oben sind, sägt man die Stufen ab, und nun können sie nicht mehr zurück. Sie sind Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.«

    Kleine Kinder träumen vom Mann im Mond. Schulkinder wissen, welche Männer wann tatsächlich auf dem Mond waren. Erwachsene realisieren, dass der Mond nur durch die Brechung des widergespiegelten Sonnenlichts in der Atmosphäre so honiggelb aussieht und in Wirklichkeit dunkel, kalt und leer ist. Matthias Claudius (1740-1815), der scharfzüngige Journalist, Fürstenkritiker und Kind gebliebene Opa, ließ sich vom Anblick des Mondes begeistern und schrieb in sein »Abendlied« die kluge Zeile: »so sind gar manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn«.

    Gustav Schwab, Joseph von Eichendorff, Caspar David Friedrich, Matthias Claudius? Der moderne Großvater im 21. Jahrhundert könnte doch, statt mit seiner Gattin um praktisch-organisatorische und mit seiner Tochter um pädagogische Kompetenzen zu wetteifern, einfach der letzte Romantiker der Familie sein – oder? Als liebenswert chaotischer Rebell gegen alles sorgenvoll Vernünftige. Seine leiblichen und/oder sozialen Enkel werden ihn dafür lieben, bin ich sicher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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