Altherrensommer
schätzen und lieben die ja zum einen für das, was sie sind. Zum anderen aber auch für das, was sie gerade werden. Oder eines Tages werden wollen. Azubis sind »angehende« Meister, Medizinstudentinnen »angehende« Ärztinnen, und wenn Ihre Tochter schwanger ist, sprechen Sie von den »künftigen Eltern«. »Selbstachtung ist nicht nur eng verknüpft mit dem, was man heute ist, darstellt und kann, sondern die Selbstachtung speiste sich immer auch aus der Vorstellung, welche Fähigkeiten man noch entwickeln würde.« 64 Damit ist ab 50 oder 60 bei den meisten Männern und Frauen aber Schluss. Nun soll sich die Selbstachtung u.a. aus dem speisen, was
man einmal war. Und da stilisiert uns das seltsame Sortiersystem unseres Gedächtnisses gerne zu Helden oder zu Opfern. Es produziert am liebsten Gründe für Bewunderung oder Empörung und Entschädigungsforderungen.
Wer seine Vergangenheit mehrheitlich idealisiert, geht anderen bald als sentimentaler Angeber auf die Nerven. Wer seine Vergangenheit mehrheitlich dämonisiert, wird nachtragend. Aber wer nachtragend ist, trägt zu viel. Nämlich die Ärgerlichkeiten des heutigen Tages und die aller früheren Tage. Das ist un – er – träglich, im Wortsinn. »Nicht die Jahre machen uns alt, sondern die Erinnerungen, die wir nicht loslassen«, meinte Schriftsteller Richard Powers. Aber womit könnte man den listig geschichtsklitternden Sortiermechanismus unseres Hirns überlisten? Tagebuch schreiben und die Tagebücher lange aufheben! Als ich unseren Kindern ihr verbummeltes, lasches Arbeiten für die Schule vorhielt und sie daran erinnerte, dass ich ja in ihrem Alter, so knapp zwanzigjährig, nächtelang gebüffelt und knallhart gebimst und gepaukt hätte – da las ich abends in meinem Tagebuch aus Studentenjahren: »Heute wahnsinnig viel zu tun. Schon um halb zehn aufgestanden.«
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WOZU IST DER OPA GUT?
»Urahne, Großmutter, Mutter und Kind / in dumpfer Stube versammelt sind« – so beginnt Gustav Schwabs berühmtes Gedicht »Das Gewitter« aus dem Jahre 1828. Schaurig schön. Generationen von Gymnasiasten mussten es aufsagen. Moment, wer fehlt da in der Stube? Der Großvater. Vor knapp 200 Jahren war das zutreffend. Großvater wurde man(n) zwar bereits ab Mitte Vierzig, aber im familiären Leben der »dumpfen Stube« kam der sechs Tage 12 Stunden schuftende Bauer oder Handwerker wenig vor. Im Leben und Er-Leben seiner Enkel gar nicht. Oder erst dann, wenn er krank zu Hause lag. Bis die Enkel ihre Eindrücke von ihm aufschreiben konnten, war er meist tot. Das hat sich geändert. Opa wird zwar später Opa, ist aber viel länger gesund und munter. Deshalb kommt er vor im Leben seiner Enkel. Und wie. Opa wird respektiert, wird geschätzt, oft sogar innig geliebt. Der moderne Opa des 21. Jahrhunderts muss nicht erst vom kauzig schnauzenden Griesgram zum liebevollen Übervater gewandelt werden wie der Alm-Öhi in Johann Spyris Roman »Heidi«. Und auch nicht erst vom geizig-hartherzigen Mr. Scrooge zum mildtätigen Menschenfreund, so wie »der kleine Lord« das bei seinem Großvater schafft in Frances Burnetts schönem Weihnachtsmärchen.
Warum und unter welchen Bedingungen strahlt der Stern der Wertschätzung eines alten Mannes plötzlich wieder heller, sobald Kindeskinder geboren werden ?
Die genetisch »eigenen« Enkel sind seltener geworden: 25% aller nach 1960 geborenen Frauen haben keine Kinder mehr bekommen 82 , Deutschlands Kinderlosigkeit wird langsam sprichwörtlich bei europäischen Nachbarn, also
betrachten Sie Ihre leibliche Großelternschaft getrost als Rarität. Über Nacht könnten Sie aber auch »soziale und rechtliche« Enkel bekommen: Wenn Ihr Sohn eine Freundin mit Kind »nach Hause bringt« oder sich Ihre Tochter einen frisch geschiedenen Vater geangelt hat, dann sind Sie Stief-Großeltern. Das werden Sie auch, wenn Ihren Kindern das Gegenteil passiert: Von den jährlich aktenkundig knapp 200.000 Scheidungen waren z.B. 2009 rund 150.000 Kinder betroffen. Die »Trennungen trotz Kind« kann man nicht präzise zählen, dürften aber pro Jahr kaum unter 100.000 liegen. Wie viele Großeltern von der Trennung und Scheidung ihrer erwachsenen Kinder betroffen sind, kann auch keiner exakt sagen – theoretisch wären es pro Paar immer vier –, aber auffällig ist doch: Über Scheidungs kinder ist in der pädagogischen Literatur unglaublich viel zu lesen, in Fernseh-Talks und Radiosendungen unendlich viel zu hören. Für frisch Getrennte und
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