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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Malessa
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»Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, dann war es so ...«

    »Wie war die Welt doch imposant / als ich ein kleiner Junge war«, schrieb der Dresdener Kinderbuchautor und Satiriker Erich Kästner, »da reichte einem das Grase noch bis zur Nase / falls man im Grase stand. / Und ein Pfund Butter, liebe Leute / war drei- bis vier Mal schwerer als heute! / Kein Mensch wird’s bestreiten. / Das waren noch Zeiten!«So Erich Kästner. Im Kopf ist jedem klar: Nicht das Pfund Butter war schwerer, sondern der kleine Junge war schwächer. Bewusst ist uns auch, dass Kinder in den 60er Jahren nicht deshalb viel mehr draußen spielten, weil frische Luft gesund ist, sondern weil die Nachkriegswohnungen eng, die Kinder zahlreich und die Straßen viel weniger befahren waren. Das Bauchgefühl aber sagt uns: Das waren noch Zeiten! Als ein Fußball, der im Schaufenster des Bäckers gelandet war, mit zwei Ohrfeigen und einer Kostenübernahme durch Papa erledigt war. Und nicht zwei Rechtsschutzversicherungen und ein jugendpsychologischer Konfliktberater in Aktion traten. Uns stehen die Haare zu Berge, wenn wir daran denken, in welch’ unsicheren Autos die Familien nach Rimini, an die Amalfiküste oder bis nach Sizilien knatterten. Ohne Sicherheitsgurte und Kindersitze nämlich. Auch der Fahrradhelm war noch nicht erfunden und Mamas giftige Reinigungsmittel hatten keine gesicherten Drehverschlusskappen.

    Trotzdem: Man erkennt sie am Gelächter. Diese Grüppchen ergrauter Herren und Damen in altehrwürdigen Universitätsstädten wie Freiburg, Tübingen, Leipzig, Münster
oder Greifswald, die sich plötzlich vor irgendeinem nichtssagenden Gebäude zum Gruppenfoto aufstellen. Nostalgie-Touristen. Erinnerungsreisende. Wollen zum 50., 60. oder 70. Geburtstag, zum 30. Examensjubiläum oder zum 40. Hochzeitstag noch einmal »ihren alten Schulweg laufen«, in dem kleinen Café ein Eis essen, »wo er mich zum ersten Mal geküsst hat«, und »gucken, ob die Werkshalle noch steht, in der ich Lehrling war«. Über eins staunen alle gleich: Wie kurz der als endlos erinnerte Schulweg war. Wie klein der vermeintlich große Hof zum Spielen war. Wie kleinkariert die Studentenkneipe heute wirkt, in der man sich so revolutionär fühlte. Wenn Sie sich von einem Besuch an Orten Ihrer Biografie erhofften, die damaligen Verhältnisse wie durch ein Opernglas näher und konturenschärfer zu sehen, dann könnte der gegenteilige Effekt eintreten. Die Gegenwart verkleinert, was die Erinnerung vergrößerte. Sie schauen plötzlich durch das rumgedrehte Opernglas und spüren: Eine völlig »objektive« Feststellung all dessen, was war und wie es war, ist gar nicht möglich. Weil Ihr schon damals subjektives Erleben wieder und wieder übermalt wurde von Ihrer subjektiven »Erinnerungsarbeit«. Und die hat im Laufe der Jahrzehnte tatsächlich ganze Arbeit geleistet. Nicht immer eine segensreiche.

    »Das Glück unserer Kindheit bestand für viele von uns weniger in dem, was wir wirklich erfahren haben, als vielmehr in dem, was wir uns für die vor uns liegende Zeit erträumten«, schreibt Theologieprofessor Hans-Joachim Eckstein, »vielleicht erinnern wir uns weniger unserer Vergangenheit an sich – sondern viel mehr erinnern wir uns an die Zukunftsoffenheit unserer Vergangenheit. Sehnen uns also zurück nach der Freude der Erwartung.« 62 Salopp
gesagt: Jeder weiß noch, was er als Grundschulkind mal werden wollte. Lokführer, Astronaut, Indianerhäuptling, Verkäuferin im Spielzeugladen, Schauspielerin, Synchronschwimmerin. Obwohl wir heute drüber lachen, erzeugt die Erinnerung an diese »Zukunfts-Offenheit« eines Kindes auch wehmütige Sehnsucht. Weil seit etwa 25 Jahren klar ist, was wir alles nicht mehr werden oder sein können. »A bad day is when I lie in bed and count the things that might have been« (an schlechten Tagen liege ich im Bett und zähle die verpassten Möglichkeiten) lässt Songpoet Paul Simon die unglückliche Frau sagen, der die Zukunft und die Vergangenheit entgleitet. 63 Ich halte diese Zeile für weise. Denn: Aus wohltuend nostalgischen Tagträumen und unterhaltsamen Gedankenspielereien über alternative Lebensverläufe (»hätte ich mich damals für Marlene statt für Irene entschieden«) kann reale Unzufriedenheit, kann eine alberne, kindische Nörgeligkeit werden. Aus Sehnsucht wird Wehmut und aus Wehmut heimliche Wut.

    Wenn Sie jetzt »Na und?« sagen, dann denken Sie mal kurz an Ihre Söhne, Töchter und Schwiegerkinder. Sie

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