Altherrensommer
traumatisiert, haben Familie, Haus und Hof verloren, sind vor Terror, Krieg und Hunger hierher geflüchtet und müssen sich, vom Asylgesetz zu jahrelanger Untätigkeit verurteilt, noch dazu als Sozialschmarotzer beschimpfen lassen. Es stehen
nette Normalos neben uns an der Bushaltestelle, die haben sadistische Prügelorgien in Waisen- und Kinderheimen der 60er Jahre überlebt, sind Hinterbliebene eines tragisch verunglückten Elternteils, werden zu Hause psychisch unter Druck gesetzt und geschlagen. Ihre Leiden sind – unbewusst – tatsächlich und zu großen Teilen identitätsstiftend geworden.
Die Mehrheit der heute lebenden Menschen ab 55 aber hat die längste andauernde Friedenszeit durchlebt, die Deutschland und seine Nachbarländer je hatten. Und, wenn sie im Westen wohnten, auch den höchsten Wohlstand, den es in Europa je gab. Leiden, Ängste, Ungerechtigkeiten und Demütigungen der eigenen Biografie werden also bei den meisten älteren Menschen nicht zwingend vom Eigengewicht dieser Erfahrungen her erinnert, sondern sie werden nachträglich mit Wucht und Wirkung versehen. Interessengeleitet eben. Neurowissenschaftler werden sicherlich erklären können, wie mein Gedächtnis das macht, mir Streiche zu spielen. Alltägliches Mittelmaß und der graue Gang der Dinge bleiben nicht gut haften. Man behält sie nicht, man vergisst sie schnell. Es sind die Höhepunkte und die Tiefschläge, derer man sich lebhaft erinnert. Die waren selten, dauerten nur kurz, aber – man kann sie in der Erinnerung so dehnen und vergrößern, dass sie zum Symbol einer ganzen Zeitspanne werden. Das geht so: Der 14-Tage-Urlaub auf Korfu hatte meist mäßig warmes, windiges Wetter bei bedecktem Himmel. Es gab vier heiße Tage mit strahlendem Sonnenschein, aber baden konnte man trotzdem nicht, da der Strand steinig war. Während der Bergtour auf den Pantokrator nieselte es manchmal, aber am Tag drauf entdeckte man eine traumhafte Sandbucht.
Korfu hat erstklassige Fischrestaurants, aber auch echte Touristenfallen mit ganztägig köchelnder Moussaka-Matsche. Korfu war so lala, es war gemischt.
Vier Jahre später erinnert sich die Familie an diesen Urlaub noch in etwa so, wie er war. Durchwachsen eben, »aber sonst ganz ok«. Acht Jahre später schwärmt Mutter von strahlender Sonne an feinen Sandstränden mit frischem Fisch vom Grill. Korfu sei ein Traum von Insel. Vater hingegen winkt ab, im strömenden Regen von einer Pommes-Bude aus auf den Kiesstrand schauen, das könne er auch in Wilhelmshaven haben. Das Gedächtnis ist sozusagen mit dem Leuchtmarker über den Text gegangen, um zu behalten. Hat das Schöne und das Schlechte jeweils zusammengefasst und kräftig hervorgehoben. Es hat für 14 Tage Korfu lediglich zwei Etiketten gedruckt: Es war wunderbar. Oder: Es war furchtbar. Nur eine der beiden Etiketten erzeugt Anspruch auf Entschädigung, die negative natürlich. Sie legitimiert Vater, im Reisebüro atemberaubend viel Geld auszugegeben, »damit uns so etwas nicht noch mal passiert!«
Inzwischen ist aus den Labors der Hirnforscher und Gerontologen die Erkenntnis ins volkskollektive Allgemeinwissen hinab getropft, dass »im Alter« (ab wann man das auch immer datieren mag) das Langzeitgedächtnis immer besser, das Kurzzeitgedächtnis hingegen immer poröser wird. Laienhaft gesprochen: Mit den Erinnerungen in Ihrem Kopf passiert dasselbe wie mit den Familienfotos in Ihren Alben. Als es noch Filmstreifen gab, die in den Fotoapparat eingelegt, dann belichtet, im Säurebad entwickelt und schließlich auf Fotopapier ausgedruckt wurden – »matt
oder hochglanz?« –, da konnten Sie die Bilder einkleben und sie jederzeit griffsicher hervorholen. Hundertmal sind diese Fotos von Hand zu Hand gegangen, haben sich als ein Stück visueller Familienchronik ins Gedächtnis gebrannt. Seit Sie digital fotografieren, die Bilder im Laptop speichern oder auf Datenträger brennen, müssen Sie erst den Computer hochfahren, die Bilder von einem USB-Stick kopieren oder die hoffentlich richtig beschriftete CD finden und sich dann durch tausend Bilddateien klicken, um ihrer Schwiegermutter diesen einen, witzigen Schnappschuss zeigen zu können. Währenddessen ist Schwiegermutter eingeschlafen. Und Sie sind bei ganz anderen Bildern hängengeblieben. Ergebnis: Ihre Familie hat das Gefühl, es gäbe mehr Bilder von früher als von gestern. Stimmt gar nicht. Die von gestern sind nur umständlicher herzeigbar.
Nun ist die Bewertung unserer
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