Altherrensommer
Urlaubs-Erinnerungen harmlos und irgendwann auch »wurscht«. Die Bewertung unserer Beziehungs-Erinnerungen hingegen beeinflusst die Qualität einer Paarbeziehung massiv. Denn: Je länger die gemeinsamen Erlebnisse her sind, umso mehr neigen wir dazu, sie zu idealisieren oder zu dämonisieren. Auf amüsante Art können Sie das testen. Bitten Sie drei Paare aus Ihrer Verwandtschaft oder aus Ihrem Freundeskreis, jeweils nur fünf Minuten lang zu erzählen, was ihnen – auf die Plätze, fertig, los – zum Stichwort »Meine Hochzeit« einfällt. Oder »Flitterwochen«. Sehr aufschlussreich ist auch das Thema »Die Geburt unseres ersten Kindes«. Gar nicht lustig – und für größere Runden auch nicht empfehlenswert – ist die tiefere persönliche Ebene, auf der himmelhochjauchzende Glücksphasen und widerwärtige Kräche und Ehekriege erinnert werden. Die idealisierten Erinnerungen
erzeugen nämlich nicht nur große Dankbarkeit (»wir hatten dort die wohl schönste Zeit unseres Lebens«), sondern auch eine wehmütige Sehnsucht. »Vielleicht wird’s nie wieder so schön«, heißt das melancholische Lied des Sängers Gerhard Schöne dazu. Die jugendliche Unbekümmertheit, mit der man in den Tag hineinlebte, die sympathische Naivität, mit der man lichterloh entflammt war füreinander, das ungestüme Drängen und Verlangen, mit dem man erotische Feuerwerke an den Sternenhimmel zauberte – all das kommt so nie wieder. Schluss, aus, vorbei. Männer und Frauen ab 55 können sich noch mal verlieben, können wunderbar romantisch sein, können Sexualität erleben wie nie zuvor – aber nichts davon wird sein »wie beim ersten Mal«. Es ist nun einmal nicht das erste Mal, und wie es damals wirklich war, wissen sie nicht wirklich.
Den Rückweg ins Paradies kindlicher Unschuld »jenseits von Gut und Böse« versperrt der Engel mit dem Flammenschwert. Da hat das biblische Buch Genesis mit seinen lebensklugen mythischen Bildern schon Recht. Dieser grimmige Türsteher heißt: Verbrauchte Lebenszeit. Wenn reife Männer und Frauen davor die Augen verschließen, weil sie wie kleine Kinder der Meinung sind, was-ich-nicht-seheist-auch-nicht-da, dann benehmen sie sich kindisch.
Die dämonisierten, in der Rückschau immer schlimmer werdenden Erinnerungen wiederum – die erzeugen bestenfalls eine gewisse Zufriedenheit (»gut, dass wir das hinter uns haben«), möglicherweise aber auch große Schmerzen. (»ich komm’ nicht drüber weg, dass Du damals ...«). Kein brennender Schmerz wie bei einer akuten Wunde, sondern ein ziehender Schmerz wie bei einer wetterfühligen
Narbe. All die Beleidigungen und Kränkungen in Taten und Worten, die vielen Peinlichkeiten und Missverständnisse, Verwicklungen und Verletzungen aus zwei, drei oder vier Jahrzehnten Zusammenleben – die sind hoffentlich längst vergeben, aber deshalb ja nicht automatisch vergessen. Wer sich erinnert, dreht sich zu seiner Vergangenheit herum und hat sie in dem Moment nicht »hinter sich«, sondern hat sie »sich vorgenommen«. Man hat die Vergangenheit buchstäblich vor sich. Glückwunsch, wenn Sie das Unabänderliche »mit dem vergebenden Gott zusammen verzeihend beurteilen dürfen«, wie der katholische Theologe Karl Rahner schrieb. 61 Glückwunsch, wenn beide Partner von Herzen einander verziehen haben und sagen können: »Schwamm drüber«! Jetzt, bei klarer werdendem Langzeitgedächtnis aber, scheint es der Schwamm zu sein, der über Tätowierungen wischt. Es blutet nichts mehr, alles ist sauber, alles ist glatt, aber – wie das mit tätowierten Menschen halt so ist: Man spricht über das Tattoo normalerweise nicht, aber man sieht es dauernd.
Ob und wie Männer und Frauen die Bewertung emotionaler Höhe- und Tiefpunkte in ihren Erinnerungen geschlechtsspezifisch vornehmen, darüber sind sich die Gelehrten uneins. Dass die nachträgliche Idealisierung oder Dämonisierung von erinnerten Erfahrungen aber im Alter besonders stark auseinanderlaufen kann, das scheint offensichtlich. Jeder hat andere Aspekte der Geschichte gnädig herausgefiltert oder freudig hervorgehoben. Was toll und was schlimm war, wird umso strittiger, je länger es her ist, und so lässt sich darüber auch ebenso endlos wie ergebnislos streiten. Vor allem Männer pochen auf die Feststellung historischer Objektivität (»Ich weiß doch genau, wie es
wirklich war!«), die aber ist nicht mehr feststellbar. Sympathischer finde ich es da, wenn Frauen ihren Nostalgie-Anekdoten vorausschicken:
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