Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
ungebildet. Dennoch war Anne kaum in der Lage, zu wählen – sie stammte aus einfachen Verhältnissen und würde letztlich den erstbesten Antrag annehmen müssen. Vorausgesetzt, dass sie überhaupt gefragt wurde und derjenige nicht gleich beim Vater um ihre Hand anhielt.
Anne betrachtete das Familienoberhaupt einen Moment lang missmutig. Ihr Blick verharrte in den tiefen Furchen in seinem Gesicht, die wohl zu Lasten der harten Arbeit gingen. Ihr Vater seinerseits sah sie voller Wohlwollen an. „Du wirst immer schöner, mein Kind“, sagte er mit seiner tiefen, heiseren Stimme und nahm auf einem knarzenden Stuhl Platz. Anne schämte sich ihres Selbstmitleids und begrüßte ihn nun betont freundlich. „Guten Morgen, Vater. Hast Du gut geschlafen?“ – „Bestens, meine Tochter. Du ebenfalls? Ich hörte dich oben poltern.“ Oh nein! War sie etwa wieder schlafgewandelt? Eine lästige Begleiterscheinung dieser Träume – gelegentlich erwachte sie sogar außerhalb des Hauses. Es war wohl einer glücklichen Fügung zu verdanken, dass sie dabei noch nie Schaden genommen hatte. „Es ist nichts, Vater. Ich habe nur geträumt.“ – „Daran ist nichts Verwerfliches. Es wäre doch traurig, wenn man in deinem Alter keine Träume mehr hätte“, entgegnete er augenzwinkernd. Anne lächelte abwesend. Wenn ihr Vater wüsste, dass ihre Träume keinem Nachbarsjungen, sondern einem völlig Fremden galten, der bei all dem Prunk und der Dienerschaft wenigstens ein Herzog sein musste, würde er anders darüber sprechen.
In diesem Augenblick stapfte Hans, der Dorfkurier, um die Ecke. „Ein Eilbrief mit dem Siegel von Scientia“, rief er. Ihr Vater guckte erfreut, griff danach und las, während Anne dem jungen, dürren Kurier zum Dank einen Apfel reichte. „Henri kommt nach Hause. Schon morgen.“ – „Das sind gute Nachrichten, Vater.“ Anne beneidete ihren Bruder ein wenig um seine Studien und war dennoch immer froh, wenn er kam – seine Geschichten verliehen ihrem Alltag einen Hauch seines täglichen Glanzes. Wenn er von Fächern wie Fährtenlesen, Himmelskunde und Geschichte aus der Alten Zeit berichtete, kam es ihr vor, als würde sie selbst die Spuren geheimnisvoller Fremder untersuchen, durch ein Teleskop die Himmelskörper betrachten oder eine Reise in die Vergangenheit unternehmen.
Hinzu kam eine Ahnung, dass sich hinter seinen Erzählungen weitere Geheimnisse verbargen. Oft, wenn er mitten im Bericht war, hatten die Männer plötzlich einen eiligen Auftrag für sie, der sie aus der Stube fortführte. Ein ums andere Mal hatte sie aber Sätze aufgeschnappt, die sie vermuten ließen, dass zu Henris Lehrplan auch Fächer wie Magie, Traumkunde und Geheimschriften zählten. Fragen konnte sie ihn aber nicht danach. Henri war der Meinung, dass ein Mädchen so etwas nichts angehe.
Als ihr Vater nach dem Frühstück den Raum verließ, um seiner täglichen Arbeit nachzugehen, wusch Anne das Geschirr in einem Bottich. Gedankenverloren betrachtete sie ihr Spiegelbild im Fenster. War sie wirklich schön? Vermutlich schön genug, dass sich ein Mann für sie fände. Aber sicherlich keiner wie der reiche, gut aussehende Fremde aus ihren Träumen. Sie seufzte wehmütig und widmete sich dann wieder dem Geschirr.
Kapitel 2: Henri
Der weitere Tag verlief wie viele andere in Annes Leben. Sie ging mit dem Vater aufs Feld hinaus, um die Ernte einzubringen. Die Spätsommersonne brannte heiß und der Schweiß rann ihnen von der Stirn, während sie die Sensen schwangen. Am Nachmittag, als sie zurückkehrten, trieb ihr Vater die Kühe von der Weide in den Stall und sah nach den Schweinen, während Anne im Hühnerhaus die Eier einsammelte und den Gemüsegarten pflegte. Sie hatte nichts gegen die Arbeit auf dem Hof, wenn sie auch manchmal anstrengend war. Dennoch hätte sie weit lieber, wie Henri, ihre Zeit mit Lernen und Studieren verbracht. Anne erinnerte sich, dass ihre leider jung verstorbene Mutter sich viel mit ihr beschäftigt hatte. Neben Tätigkeiten wie Häkeln und Nähen hatte sie ihr heimlich auch das Lesen beigebracht und wohl davon geträumt, dass ihre Tochter später eine ebenso gute Ausbildung erhielt wie ihr Sohn. Doch kurz nach Annes sechstem Geburtstag hatte sie eine Reise unternommen, von der sie nicht lebend zurückgekehrt war. Etwa anderthalb Jahre später hatte Henri den Hof verlassen und seitdem war ihr Vater auf ihre Hilfe angewiesen. Dass sie eines Tages ebenso studieren könnte, schien aussichtslos.
In der
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