Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
folgenden Nacht träumte Anne erneut von ihrer Hochzeit mit dem Unbekannten und erwachte diesmal nicht in ihrem Bett, sondern fand sich auf einem Hocker in der Küche sitzend. „In letzter Zeit häuft sich das“, stellte sie verärgert fest und reckte und streckte sich, da ihr der Rücken schmerzte. „Wäre ich doch selbst an Henris Universität, dann könnte ich den Professor für Traumkunde fragen“, murmelte sie vor sich hin, während sie sich wusch. Aber gerade heute blieb ihr wenig Zeit zum Nachsinnen. Henris Ankunft musste vorbereitet, sein Zimmer auf dem Dachboden gesäubert und ein Willkommensmahl gekocht werden. Während ihr Vater diesmal allein auf dem Feld war, verbrachte Anne Stunden damit, den Boden zu putzen, wo sich offenkundig in den Monaten seit Henris letztem Besuch eine Mäusefamilie eingenistet hatte. Danach ging sie in die Küche, um einen Kuchen zu backen. Im Garten erntete sie frisches Gemüse und bereitete daraus einen großen Topf Suppe zu. Ihr Vater kehrte früher zurück, um Holz für den Kamin zu hacken, da es an diesen letzten September-Abenden bereits empfindlich kühl wurde. Beide waren in Eile – denn Henris Nachricht hatte keinen Aufschluss darüber gegeben, wann er eintreffen würde, und wie immer wollte ihr Vater, dass der so fleißig Studierende ein gemütliches Zuhause vorfand.
Am Nachmittag schien es so weit zu sein. Die Frau des Schmieds aus dem nahe gelegenen Dorf kam zu Anne, um Milch zu kaufen, und berichtete ihr: „Ich habe den jungen Herrn auf seinem weißen Ross gesehen.“ Henri war mit seinem roten Haar und den smaragdgrünen Augen – einem Erbe ihrer verstorbenen Mutter – seit jeher eine auffällige Erscheinung und das hatte sich noch verstärkt, seit er die Universität besuchte. Die Mädchen schmachteten ihn reihenweise an und jede hoffte, eines Tages einen weit gereisten Mann wie ihn ehelichen zu dürfen. Anne gönnte ihm die Aufmerksamkeit, allerdings ärgerte sie sich, dass Henri in seinem Brief nicht geschrieben hatte, was die Frau ihr weiterhin berichtete. „Dein Bruder reitet in Begleitung eines dunklen Mannes auf schwarzem Pferd. Er sieht exotisch und wohlhabend aus.“ Henri und sein Freund konnten nicht mehr weit sein, sicher hatten sie nur kurz in der Schmiede Halt gemacht. So richtete Anne in Windeseile noch ihr eigenes Zimmer her, sobald die Frau sie verlassen hatte. Ein so erhabener Fremder konnte wohl kaum im Stall schlafen, also würde Anne mit ihm tauschen und selbst bei den Pferden nächtigen müssen. Wieder einmal typisch für Henri, dass er sich keine Gedanken um den Aufwand seines Besuches macht, dachte Anne.
Bald darauf erblickte sie auf einem Hügel das ihr gut bekannte weiße Ross ihres Bruders – Blizzard, den der Vater zu Beginn von Henris Studienzeit erstanden und seinem Sohn zum Abschied geschenkt hatte – und das schwarze des Fremden. Anne gab ihrem Vater Bescheid und beide fanden sich vor dem Haus ein und verfolgten, wie die beiden jungen Männer näher ritten. Misstrauisch beäugte Anne den Fremden aus der Ferne. Sie verstand, was ihr die Nachbarsfrau hatte sagen wollen. Seine Kleidung sah kostbar aus und er hielt sich aufrecht wie ein Edelmann im Sattel. Doch seine Haut war dunkler als hierzulande üblich. Sonnengebräunt wie sie war, vermutete man gleich, dass der Mann ein Abenteurer sei und viel herumkam. Er wirkte weit erwachsener als ihr mittlerweile 19 Jahre alter Bruder. Sein halblanges Haar schien wild und verwegen. Hoffentlich würde er mit seinem Schlafplatz zufrieden sein. Henri wirkte gegen ihn schmächtig, doch auch er wurde langsam zum Mann. Ob er an der Universität bereits eine Freundin hatte? Sicher würde ihm ja eine gebildete Frau besser gefallen als ein Mädchen aus dem Dorf. So in ihre Gedanken versunken, brauchte Anne eine Weile, bis ihr auffiel, dass ihr der Fremde irgendwie bekannt vorkam. Henri und er waren noch etwa fünf Schritte entfernt, als sie erstarrte.
„Das ist Miraj, mein Lehrer für Reiten, Schwertkampf und Fährtensuche“, stellte Henri seinen Begleiter vor und sprang vom Pferd. „Die Zeiten sind unruhig, da sollte man nicht allein so weite Strecken bewältigen.“ – „Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Miraj. Anne, bring die Pferde in den Stall, ich begleite Henri und seinen Lehrer ins Haus“, sagte ihr Vater und reichte Anne die Zügel. Anne entgegnete nichts, stattdessen starrte sie Miraj mit offenem Mund an. Ihr Vater wurde ungeduldig: „Kind, träumst du schon
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