Alzheimer und Demenzen
werden kann:
Ich kann vielleicht nicht in dem Ausmaß für den Kranken sorgen, wie ich es mir wünschte, weil ich auch noch andere Verpflichtungen habe, die meine Zeit erfordern, bzw. auch mein eigenes Leben lebe. Darüber hinaus kommt es manchmal zu Situationen, in denen ich Entscheidungen treffen muss, die den Wünschen des Kranken nicht entsprechen, wenn ich z. B. dafür sorgen muss, dass ein ambulanter Pflegedienst seine Körperpflege übernimmt, obwohl er das nicht möchte. Als Angehörige erlebe ich es sicherlich auch hin und wieder, dass mir der Geduldsfaden doch reißt und ich aus der Haut fahre, wenn ich zehnmal hintereinander dieselbe Frage beantworten soll. Vielleicht kommt auch manchmal das Gefühl auf, dass ich mit den Veränderungen, die die Krankheit mit sich bringt, doch nicht so gut zurechtkomme, wie es von mir selbst erwarte. Diese Diskrepanz zwischen idealem Selbst-Bild und dem realen Ich, das durch Sachzwänge und andere Gründe in seinem Handlungsspektrum eingeschränkt ist, ist ebenfalls ein Nährboden für zermürbende Schuldgefühle. Ein besonders schlechtes Gewissen habe ich als Angehörige, wenn ich mir eingestehen muss, dass ich den Kranken in erster Linie als Belastung empfinde und darüber hinaus zu nur noch wenig anderen Gefühlen ihm gegenüber fähig bin.
»Obwohl ich doch weiß, dass sie krank ist …«
Ein 75-jähriger Mann spricht über seine Schuldgefühle, die er empfindet, wenn er aufbrausend auf seine demenzkranke Frau reagiert hat. Obwohl er weiß, dass sie nichts für ihre Beeinträchtigungen kann, und er sich vorgenommen hat, ruhig zu bleiben, gelingt ihm das nicht immer:
Sie versteht einfach nicht.
»Sie versteht oft die einfachsten und lapidarsten Dinge nicht. Und wenn ich es ihr schon mehrere Male erklärt habe, und sie versteht es immer noch nicht, dann bringt mich das manchmal in Harnisch! Weil es doch Trivialitäten sind! Dann platzt mir der Kragen – und gleich darauf habe ich Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen! Sie hat ihr Leben lang so viel für mich getan, und ich meckere an ihr herum, obwohl sie doch krank ist!«
Ähnlich geht es einer Tochter, deren demenzkranke Mutter sich aufgrund von Gedächtnisstörungen ständig wiederholt:
»Ich habe Schuldgefühle gegenüber meiner Mutter, weil sie mir bisweilen auf die Nerven geht. Immer dieses Wiederholen derselben Geschichten! Auf der anderen Seite weiß ich seit einem Jahr, dass es nichts Willentliches ist – sie ist ja krank! Und trotzdemschaffe ich es nicht immer, mich unter Kontrolle zu halten. Trotzdem explodiere ich und schimpfe sie. Und sofort denke ich: Das war nicht gut! Ich frage mich dann, wie ich überhaupt in der Lage sein kann, jemanden, der nicht mehr fähig ist, etwas richtig zuzuordnen, dafür zu schimpfen!«
Weil sie kaum mehr freie Zeit für sich hat, empfindet eine 50-jährige Tochter ihre demenzkranke Mutter nur noch als Belastung – weshalb sie von starken Schuldgefühlen geplagt wird:
Ich hätte sie gerne wieder lieb.
»Ich kämpfe ständig mit mir selber und fühle mich schlecht. Meine Mutter ist immer in meiner Nähe, und ich empfinde sie nur noch als Belastung – obwohl ich das gar nicht will. Sie ist doch noch immer meine Mutter! Ich hätte so gerne wieder einmal positive und liebevolle Gefühle ihr gegenüber – aber die kommen nicht mehr! Das einzige, was ich empfinde, ist Belastung! Von der Vernunft her weiß ich ja, dass sie nichts dafür kann, aber es ist einfach da!«
Sich hin und her gerissen fühlen
Angehörige von Demenzkranken versuchen oft, gleichzeitig zwei Ansprüchen gerecht zu werden. Zum einen möchten sie empathisch mit dem Kranken umgehen und ihn verstehen, zum anderen haben sie aber auch ihre eigene, reale Welt. Mit diesem Dilemma zurechtzukommen ist eine schwierige, aber nicht unlösbare Aufgabe.
Zentral im Erleben vieler Angehörigen ist das gleichzeitige Auftreten von Empfindungen, die sich zu widersprechen scheinen, was sie als belastendes Gefühl des »Hin-und-her-gerissen-Seins« bezeichnen. Weil sie sich als empathische Kommunikationspartner in die Lage des Kranken hinein versetzen, die Welt aus seinen Augen sehen und seine Perspektive übernehmen können, aber andererseits auch immer ihre eigene Weltsicht, eigene Bedürfnisse und eine eigene Wahrheit haben, erleben sie ein und dieselbe Situation – oft parallel – aus 2 verschiedenen Blickwinkeln. Das ist ein schwieriger Spagat, den Angehörige oft jeden Tag vollziehen.
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