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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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lassen. Aber danke fürs Zuhören. Jetzt müssten die Kinder eigentlich gleich hier sein.«
    Und als er das sagte, sah Backman sie im selben Moment. Lars, Martin und Jenny. Jenny ging in der Mitte und hatte um jeden der Jungen einen Arm gelegt. Eva Backman hatte einen Kloß im Hals und erkannte, dass es ein anderes Bild desselben alten Künstlers war: Auf dem Weg zum Grab .
    Als die Kinder zu ihnen traten, umarmte sie alle drei, wobei die Jungen ein wenig verlegen wirkten, aber das taten sie immer. Mit Jenny war es leichter, obwohl sie weinte, als sie sich dem Grab näherte. Nach einigen Sekunden Unsicherheit reihten sie sich nebeneinander auf, hielten sich an den Händen und blieben für einen Moment schweigend vor dem schlichten Holzkreuz stehen; die Stille wirkte ganz und gar nicht bedrückend, ein kleiner Vogel kam und setzte sich kurz auf das Kreuz, ehe er wieder aufflog, und es fiel einem nicht sonderlich schwer, sich vorzustellen, dass Marianne sie tatsächlich sah. Oder sogar, dass der Vogel sie war.
    Überhaupt nicht schwer. Eva Backman dachte, dass es eine Minute war voller – Würde? Ewigkeit ?
    Bevor sie sich trennten, umarmte Jenny sie noch einmal.
    »Grüß Kalle von mir.«
    Kalle und sie gingen auf dem Gymnasium in Parallelklassen und gehörten zum selben Freundeskreis, und diese simple Tatsache freute und rührte Eva Backman plötzlich. Jenny und Kalle hatten eine ganz eigenständige Beziehung zueinander, ganz unabhängig von ihren Eltern – von ihr selbst, von Ville, von Barbarotti und Marianne –, und das fand sie auf einmal ungeheuer beruhigend.
    Als würde ihr erlaubt, ein bisschen loszulassen. Ein Teil der Verantwortung fiel von ihr ab, eine neue Generation übernahm, und ihr wurde klar, dass diese blöde Gans Blanche wirklich niemand war, auf den man Energie verschwenden sollte.
    »Dann bis Montag?«, sagte sie zu Barbarotti.
    »Du willst nicht mitkommen und bei uns essen?«
    »Nein, danke. Ein anderes Mal.
    »Na gut.«
    Und damit trennten sie sich.

14
    Der 2. Juni 1989
    Als sie am Herd stand und Kartoffeln in Scheiben schnitt, kam er vorbei und gab ihr einen Klaps auf den Po. Er roch nach Bier, Zigarettenrauch und schwach nach Schweiß, und ohne, dass sie sich dabei etwas Bestimmtes gedacht hätte, schlossen sich ihre Finger fester um das Messer in ihrer Hand.
    Als eine Art makabere Reaktion, eine Vorbereitung; dieser Gedanke tauchte jedenfalls auf und suchte Halt – später, als alles schon geschehen war, sollte sie an ihn zurückdenken –, und dann wollte er von ihr wissen, wo sich der verdammte Junge herumtrieb.
    »Keine Ahnung«, antwortete Ellen wahrheitsgemäß. »Er ist bestimmt in seinem Zimmer.«
    Er murmelte etwas und ließ sie stehen. Sie hörte, wie er sich eine Handvoll Chips aus der Schüssel auf dem Tisch im Wohnzimmer nahm und schwer auf die Couch fallen ließ. Kaute, einen Schluck Bier trank, rülpste.
    Sie wusste nicht, ob Billy wirklich in seinem Zimmer war, aber wo sollte er sonst sein? Wahrscheinlich saß er am Schreibtisch und spielte mit seinen Zinnsoldaten. Reihte sie, still und zielstrebig, in verschiedenen Formationen gegeneinander auf. Er besaß über hundertfünfzig Stück; sie hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging, wenn er mit seinen Soldaten spielte, aber er konnte sich stundenlang mit ihnen beschäftigen.
    Andererseits: Was im Kopf dieses Jungen vorging, wenn er nicht bei seinen Soldaten saß, blieb ihr ebenfalls verborgen. Größtenteils jedenfalls, weil er nicht sprach.
    Sicher, er konnte »ja« und »nein« sagen, vereinzelt auch einmal »hungrig« oder »durstig«, mehr aber auch nicht. Die Lehrerin der Sonderklasse, in die er zusammen mit acht weiteren Schülern mit Lernschwierigkeiten ging, behauptete, dass er manchmal auch anderes von sich gab, beispielsweise »ich kann« oder »ich verstehe nicht«. Sie hieß Eivor, und Ellen wusste, dass Billy sie liebte. Es war das Gerücht gegangen, dass sie nach den Sommerferien eventuell nicht mehr an der Schule sein würde, und Ellen schauderte es bei dem Gedanken an diese Alternative. Die Lehrer, die bislang versucht hatten, Billy zu unterrichten, hatten bei dem Jungen nichts, aber auch gar nichts erreicht, und es war sogar die Rede davon gewesen, ihn auf eine Sonderschule zu versetzen. Momentan ging er in die normale Schule und gehörte zu einer Gruppe von Schülern mit besonderen Bedürfnissen, wie es offiziell hieß, und unter Eivors behutsamer Anleitung hatte sich immerhin herausgestellt, dass er

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