Am Abend des Mordes - Roman
kein Idiot war. Mittlerweile konnte er, im Alter von knapp zwölf Jahren, sowohl lesen und schreiben als auch rechnen.
Mit seiner Schüchternheit und Verschlossenheit sah es natürlich anders aus; Ellen fragte sich gelegentlich, wie viel sich von ihr selbst auf seine verschlossene Art und seinen abgewandten Blick übertragen hatte. Wenn es in ihrem Leben eine Zeit gab, die sie nicht zurückhaben wollte, dann die ersten Jahre der Pubertät. Oder ihre Schulzeit generell.
Gab es überhaupt etwas, was sie zurückhaben wollte? Noch eine Frage, die sie sich tunlichst nicht stellen sollte.
Und Billy war groß und stark, das ließ sich nicht leugnen. Er würde sich mit Sicherheit wehren können, wenn es ihm denn jemals in den Sinn käme. Schon jetzt einen halben Kopf größer als seine Mutter und mit breiten Schultern. Sie wusste, dass er einen Spitznamen hatte – das Schwein –, wofür wohl die fast weißen, kerzengeraden Haare ausschlaggebend gewesen sein dürften. Zwanzig Jahre zuvor war sie selbst die Maus genannt worden, manche Dinge vererben sich eben, ob man nun will oder nicht.
Welches Tier Harry am nächsten stand, wusste sie nicht, aber sie hatte einmal gehört, dass ihn jemand mit Du dreckige Hyäne beschimpft hatte, und unabhängig davon, ob dies nun sonderlich zutreffend war oder nicht, war es ihr im Gedächtnis geblieben.
Das Schwein, die Maus und die Hyäne. Willkommen bei Familie Helgesson auf Klein-Burma.
Obwohl die Hyäne allmählich ein wenig zu dick und schwer wurde, um als Hyäne durchzugehen. Sie verteilte Butterflocken auf Kartoffeln und Rindfleisch und schob das Blech in den Ofen. Eine sogenannte Seemannspfanne oder jedenfalls eine Variante davon. Es war eins von vier, fünf Standardgerichten an den Wochenenden. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach sieben, wenigstens würden sie noch vor acht am Esstisch sitzen. Sie zog die Schürze aus, schlich sich aus der Küche, um sich zu vergewissern, dass Billy wirklich in seinem Zimmer war, und um zu duschen.
Aus dem Wohnzimmer drangen Laute, die ihr sagten, dass Harry den Fernseher eingeschaltet hatte. Den Geräuschen nach zu urteilen lief eine amerikanische Komödie. Heitere Stimmen und Lachen vom Band. Sie überlegte, dass sie die Blumen gießen müsste, verschob dies jedoch auf später. Es war besser, sich im Badezimmer einzuschließen und zu tun, als würde sie es nicht hören, wenn er gegen die Tür hämmerte und hereinkommen und sie betatschen wollte.
Nicht vor dem Essen. Nicht solange der Junge wach war, diese Grenze konnte sie in der Regel aufrechterhalten.
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah Billy dort sitzen. Das verwaschene grüne T-Shirt und einen Streifen blässlich fette Haut, ehe die Jeans begann. Schwer über den Schreibtisch gebeugt, ja, er sah tatsächlich klobig aus, dachte sie unfreiwillig. Er war sich ihrer Gegenwart nicht bewusst; ein schwacher Laut entfuhr ihm, keine Worte, nur ein Ton, etwas fast Tierisches, wenn auch nicht aggressiv. Im Gegenteil, eher ein Gorillaweibchen, das seine Jungen wiegt.
Das war ein seltsames Bild. Er war doch eher ein Schwein, kein Gorilla? Sie schob die Tür wieder zu und ging die Treppe zum Badezimmer hinauf. Dachte daran, was die Muti-Stimme gesagt hatte, als sie im Bus saß.
Halte nicht .
Beim Essen trank sie ein Glas Wein zu viel. Oder auch zwei.
Es geschah weder bewusst noch unbewusst. Sie wollte es nicht tun, aber manchmal gab sie nach, wenn er ihn ihr aufdrängte und nachschenkte. Außerdem war er leichter zu ertragen, wenn sie ein bisschen betrunken war. Der Alkohol im Blut stumpfte sie ab, sie konnte abschalten und ihn einfach machen lassen; manchmal konnte sie sogar so tun, als fände sie es schön, als gefiele ihr sowohl er als auch seine Art. Sie wusste nicht, ob er sie durchschaute; vielleicht würde er es, wenn er nüchtern wäre, aber er war nicht nüchtern.
Das war er inzwischen nur noch selten, vor allem an den Wochenenden nicht, Freitagabende und Samstagabende waren zum Saufen da, was zum Teufel sollte man denn sonst mit ihnen anstellen? In der Woche trank er nur Bier, zwei Dosen jeden Abend nach der täglichen Schufterei. Sie machten ihn schläfrig, und man musste ihnen keine Beachtung schenken. Außerdem rührte er sie dann nie an.
Sie teilten sich zwei Flaschen Wein, als sie am Tisch saßen und Billy noch bei ihnen war. Billy trank wie üblich Fanta, es war sein absolutes Lieblingsgetränk. Als er in sein Zimmer gegangen war, um zu schlafen oder weiter mit
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