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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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seinen Zinnsoldaten zu spielen, öffnete Harry vor dem Fernseher eine dritte Flasche Wein. Allerdings schaltete er ihn schon bald aus und stellte die Stereoanlage an. An diesem Abend kein Creedence, sondern eine alte Platte von Ulf Lundell. Sie nahm an, dass er dies für romantisch hielt, sie tranken weiter Wein, er rauchte eine Zigarette nach der anderen und sang alle Texte mit. Ab und zu schob sich seine Hand den Oberschenkel zu ihrem Schoß hoch, aber noch meinte er es nicht richtig ernst. Sie trank einen Schluck, ließ den Kopf auf der Couchlehne ruhen und schloss die Augen. Es war ein Freitagabend auf dem Hof Klein-Burma, irgendeiner.
    Es war schwer zu sagen, wann der Widerstand auftauchte. Und warum. Und wie.
    Aber er kam, und als er sie einmal gepackt hatte, wollte er einfach nicht weichen. Vielleicht lag es am Wein, einer neuen Sorte aus Chile, und statt sie schwach und schlapp und willenlos zu machen, schien er sie stärker zu machen. Aber wie war das möglich? Welche Trauben konnten solche magischen Kräfte haben? Oder hing es irgendwie mit Ulf Lundell zusammen?
    Siebenundsechzig, siebenundsechzig, wo bist du jetzt? 1967 war sie vierzehn gewesen. Ja, man konnte sich wirklich fragen, wohin alles verschwunden war.
    Sie fegte Harrys Hand weg und stand auf. Wankte ein bisschen, was ihr manchmal passierte, wenn sie betrunken war und zu schnell aufstand.
    »Was ist denn mit dir?«
    Sie strich sich mit beiden Händen durchs Haar und merkte, dass daraus eine Art Geste der Selbständigkeit wurde. Ihr Rücken streckte und die Lunge weitete sich, eine Illusion von Freiheit und Tatkraft durchströmte sie, und für eine Sekunde dachte sie, dass alles möglich war und sie beispielsweise, wenn sie sich nur dazu entschloss, einen leichten Koffer packen, Mantel oder Jacke anziehen und gehen könnte. Das Schwein und die Hyäne ihrem Schicksal überlassen und in die Welt hinausziehen könnte.
    Eine Sekunde lang, vielleicht auch zwei. Dann kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Nach Klein-Burma. Aber eben doch nicht ganz; der Widerstand – was immer er war und wo immer er herkam – hielt sich weiterhin in ihr. Ohne seinem Blick auszuweichen, sah sie ihm unverwandt in die Augen, während er mit einer gerade angezündeten Zigarette halb in seiner Couchecke lag.
    »Toilette«, sagte sie und merkte, dass sie die Silben ein wenig schleifen ließ. »Ich bin gleich wieder zurück.«
    »Zieh deinen Slip aus, wenn du ihn eh schon runterziehst.«
    Er grinste über seine Spitzfindigkeit und zog an seiner Zigarette. Legte die Hand auf seinen Schritt und zwinkerte ihr zu.
    Ekelpaket, dachte sie. Du bist nichts anderes als ein großes Ekelpaket, Harry Helgesson.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis er kam und gegen die Tür hämmerte. Zwanzig Minuten? Eine halbe Stunde sogar? Sie saß auf dem Fußboden, an die Badewanne gelehnt und war fast eingeschlafen.
    »Was zum Teufel machst du da drin?«
    Sie zuckte zusammen und schlug mit dem Nacken gegen den Badewannenrand.
    »Ich komme gleich …«
    »Verdammt, du hockst ja schon den ganzen Abend da drin.«
    Sie stand mühsam auf und warf einen Blick auf die Uhr. Halb elf. Musterte ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Sie sah verheult aus, konnte sich jedoch nicht erinnern, geweint zu haben. Vielleicht quoll so der Wein heraus. Lippen und Zähne schimmerten bläulich. Er muss geisteskrank sein, wenn er es einer wie mir besorgen will, dachte sie.
    Besorgen ? Sie hätte am liebsten geheult, weil sie selbst ein solches Wort benutzte.
    »Was zum Teufel machst du da?«
    Sie ließ Wasser laufen.
    »Ich komme ja. Nur eine Minute.«
    »Verdammt!«
    Und während sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, hörte sie ihn von der Badezimmertür fort- und zu Billys Zimmer hinuntergehen, die Tür öffnen und anschließend erneut fluchen. Etwas fiel zu Boden, und der Junge gab einen Laut von sich. Kein Wort, nur einen Ton. Ohne zu zögern, hatte Harry die Tür aufgerissen und ihn erschreckt.
    Danach folgte ein weiterer Fluch, und es knallte zwei Mal laut. Sie konnte sich die Szene mühelos vorstellen. Wie der Junge sich über dem Schreibtisch zusammenkauerte, die Arme um den Kopf gelegt, und sein Vater ihn schlug. Sie hatte es auch früher schon gehört, und sie hatte es gesehen. Was Harry diesmal wütend gemacht hatte, wusste sie nicht. Vielleicht bloß, dass der Junge nicht im Bett gelegen hatte, obwohl es bereits spät war. Vielleicht hatte er in seinem Zimmer etwas kaputtgemacht oder sich in der

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