Am Abend des Mordes - Roman
es gegen »Bärenkräfte« auszutauschen? Auch das konnte man sich fragen. Zumindest in seiner Ausgabe war es so – aber natürlich war das bloß eine weitere fade Sinnlosigkeit, die ihn attackierte. Eine völlig belanglose Frage, die in das Meer der Beliebigkeit schwamm, das sein Bewusstsein war. Bärenstärke oder Kraft? Katze oder Fingernägel? Egal.
Gegen Ende ihres Gesprächs hatte Rönn das Thema Depressionen angeschnitten. Die Möglichkeit, gering dosiert Medikamente zu nehmen, um auf den Beinen zu bleiben, aber sie hatten sich darauf geeinigt, damit noch zu warten. Lieber Schmerz als Abstumpfung, zumindest solange die Dinge nicht völlig den Bach heruntergingen.
»Woran arbeiten Sie?«, hatte Rönn zudem wissen wollen.
»Ein alter Fall«, hatte er geantwortet. »Eine Frau, die ihren Mann ermordete und zerstückelte. Möglicherweise noch einen zweiten Mann, aber Letzteres ist unklar.«
»Klingt makaber.«
»Ist es auch. Obwohl ich nicht weiß, wie ernst ich die Sache eigentlich nehmen muss. Vielleicht will mein Chef mich damit auch nur therapieren. Ich werde sicher nichts herausfinden können.«
Rönn hatte gebrummt und eine Weile nachgedacht. Den Faden fallen gelassen und sich stattdessen dem Jenseits zugewandt. »Ich glaube, Sie müssen versuchen, wieder ganz zu Ihrem Glauben zu finden«, hatte er vorgeschlagen. »Ein halber Glaube ist kein Glaube, zwei Drittel reichen auch nicht.«
»Sprechen Sie weiter«, sagte Barbarotti.
»Sie müssen das nicht annehmen, wenn Sie nicht wollen. Und es ist auch nicht vorgesehen, dass ich über so etwas mit meinen Patienten spreche. Aber wenn Sie tatsächlich ein Mensch sind, der glauben kann – was weiß Gott nicht allen vergönnt ist –, dann sollten Sie sich bedingungslos der Gnade unterwerfen.«
»Bedingungslos der Gnade unterwerfen?«, wiederholte Barbarotti.
»Ja. Auf eine Kraft vertrauen, die stärker ist als Sie, vertrauen und nochmals vertrauen. Weder Gesetze oder Taten noch Gerechtigkeit erlösen uns. Allein der Glaube und die Gnade. Aber das ist eine Sache zwischen Ihnen und Gott.
»Das klingt, als wüssten Sie, wovon Sie sprechen«, hatte Barbarotti nach einer Weile gesagt.
»Don’t shoot the messenger«, hatte Rönn daraufhin erwidert, offenkundig hatte er ein gewisses Faible für die englische Sprache.
Ja, ich weiß, murmelte Inspektor Barbarotti, als er zwischen den schiefen Torpfosten der Villa Pickford hindurchfuhr. Ich weiß es genauso gut wie Rönn. Aber es ist nun einmal so, dass ich als etwas Halbes und nichts Ganzes geboren wurde, es braucht seine Zeit, eine neue Gestalt anzunehmen, und mehr schlecht als recht trocknet das Taschentuch der Vernunft die Tränen des Herzens.
Er fragte sich, woher diese letzten Worte kamen. Vermutlich noch so etwas, das er irgendwo gelesen hatte, warum nicht ein Gedicht, an das er sich aus seiner für alles offenen Gymnasialzeit erinnerte? Das Taschentuch der Vernunft, die Tränen des Herzens.
Dann machte er den Motor aus, blickte auf und sah, dass in jedem einzelnen Fenster im ganzen Haus Licht brannte.
19
Der 3. Juni 1989
Irgendein Morgen.
Sie wollte sich übergeben.
Oder im Bett bleiben, bis es vorüberging. Es war acht Uhr, Samstagmorgen auf Klein-Burma, und sie war seit einer guten halben Stunde wach. Neben ihr lag Harry auf dem Rücken und schnarchte mit offenem Mund. Sie dachte, wenn sie nur – nur für einen kurzen Moment − dreihundert Kilo wiegen dürfte, dann hätte sie ein Kissen auf sein Gesicht und sich selbst darauflegen können. Eine Minute oder so. Um sowohl dem Schnarchen als auch ihm selbst ein Ende zu bereiten.
Unter dem Auge tat es weh. Dort hatte er sie geschlagen, sie wusste nicht mehr, warum. Wenn es denn überhaupt einen Grund gegeben hatte, denn es bedurfte nicht viel, und es war nur ein Schlag gewesen. Billy hatte es schlimmer erwischt, sie war der Sache zwar nicht nachgegangen, aber er hatte am Vorabend in seinem Zimmer einiges auszuhalten gehabt, da war sie sicher.
Bevor sie auf der Couch die Beine breit gemacht und Harry empfangen hatte. Der einzige Weg. Obwohl es auch eine Art Prügelei war, wenn sie miteinander schliefen. Zumindest manchmal, denn es gab eine Wut in Harry, aus der sie einfach nicht schlau wurde, und so hatte er sie mitten im Liebesakt geschlagen. Als fände er irgendwie, dass dies dazugehörte. Als könnte er nicht kommen, wenn er nicht vorher diesem Zorn freien Lauf ließ.
Liebesakt? Ein Wort, das an einem anderen Ort zu Hause war. Nicht auf
Weitere Kostenlose Bücher