Am Abend des Mordes - Roman
nicht.«
»So schlimm wird es ja nun doch nicht sein, oder?«
»Nicht ganz. Aber sie hat sich mir auch im Schlaf nicht gezeigt. Jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern könnte, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich daran erinnern würde. Ich weiß nur …«
»Ja?«
»Ich weiß nur, dass sie mir geschrieben hat und ich am Donnerstag ihren Brief bekommen werde.«
Rönn platzierte seine Brille mitten auf seinem Schädel und reagierte konsterniert.
»Ihnen geschrieben?«
»Ja.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Sie ist aufgetaucht und hat es mir gesagt.«
»Jetzt, nach ihrem Tod?«
»Ja, jetzt, nach ihrem Tod. Aber nur für ein paar Sekunden. Er kommt am Donnerstag.«
»Dann haben Sie also doch Kontakt zu ihr gehabt?«
»Nur für einen kurzen Moment. Es war im Auto vor ein paar Tagen, sie saß hinter meinem Rücken auf der Rückbank. Ich habe sie nicht gesehen.«
Rönn schwieg.
»Die Bestätigung habe ich dann bekommen, als ich mit unserem Herrgott gesprochen habe.«
Er warf einen Blick auf den Therapeuten und erkannte, dass etwas passiert war. Vermutlich war Rönn bewusst geworden, dass sein Patient die Kontrolle verloren hatte. Dass es keinen Grund mehr gab, diesen haltlos treibenden Kriminalinspektor ernst zu nehmen, und von nun an ganz andere therapeutische Maßnahmen erforderlich sein würden. Unklar welche, aber Rönn schien vor ihm zu sitzen und tief in seinem psychologischen Keller zu wühlen.
»Es ist so ungeheuer schwierig«, sagte Barbarotti schließlich, »so ungeheuer schwierig, sich wirklich vorzustellen, dass man nicht tot ist, wenn man tot ist.«
»Ich weiß«, erwiderte Rönn. »Damit beschäftige ich mich seit fünfundzwanzig Jahren.«
»Seit fünfundzwanzig Jahren? Warum haben Sie …?«
Rönn atmete tief durch und betrachtete seine gefalteten Hände. »Ich hatte eine Tochter, die ums Leben kam, als sie zwölf war.«
Barbarotti schluckte. »Das tut mir leid für Sie«, sagte er. »Entschuldigen Sie, dass ich hier sitze und mich beklage. Ist das der Grund dafür, dass Sie …?«
»Dass ich diesen Job mache? Ja, zumindest ist es einer der Gründe. Ich will nicht behaupten, dass ich Ihren Schmerz verstehe, aber ich erkenne ihn zumindest wieder.«
»Wird es leichter?«, fragte Barbarotti. »Es tut mir übrigens leid, dass ich an der Katze gezweifelt habe.«
»An manchen Tagen vergehen mehrere Stunden, in denen ich nicht an sie denke«, sagte Rönn.
Woher nehmen die Menschen nur die Kraft?, fragte er sich, als er Rönn verlassen hatte. Oder lernen sie nur, mit ihrer Versteinerung zu leben. Modus vivendi, hieß es nicht so? Eine andere Art von Zustand, an den man sich gewöhnt, ob man nun will oder nicht?
Und warum konnte er das mit dem Himmelreich nicht wirklich ernst nehmen? Wenn er sich dazu durchringen könnte, an diese kleine Finesse zu glauben, wäre alles in bester Ordnung.
Und dann dieses tägliche sich in Selbstmitleid suhlen? Er war immerhin nicht tot. Und an der Hand des Selbstmitleids hing die Cousine Scham. Eine Scham, die im Lichte dessen wuchs, was Menschen im Laufe der Geschichte erlitten hatten, um anschließend trotzdem weiterzuleben. Weiterhin in eine Art Richtung unterwegs und mit halbwegs erhobenem Kopf. Trauernd, aber unbeugsam: die Gefangenen der Konzentrationslager, Menschen, deren Familien ausgelöscht wurden, die mit ansehen mussten, wie ihre Kinder starben, Ehefrauen und Töchter vergewaltigt, nahe Verwandte zu Tode gefoltert wurden, ja, die Liste war endlos. Die Geschichte der Menschheit war die Geschichte ihres Leidens, das war nichts Neues.
Diese Worte aus dem Brief an die Hebräer, die er vor ein paar Tagen verworfen hatte, kamen ihm wieder in den Sinn: Sie wurden gesteinigt, zerhackt, zerstochen, durchs Schwert getötet; sie sind umhergegangen in Schafpelzen und Ziegenfellen, mit Mangel, mit Trübsal, mit Ungemach (deren die Welt nicht wert war), und sind im Elend umhergeirrt in den Wüsten, auf den Bergen und in den Klüften und Löchern der Erde. Diese alle haben durch den Glauben Zeugnis überkommen und nicht empfangen die Verheißung.
Ich befinde mich in guter Gesellschaft, dachte Barbarotti. Ich bin nicht der Erste in dieser Lage, und so lauten die Bedingungen.
Wieder einmal saß er auf dem Weg zu Kummens udde im Auto. Wieder einmal war es an der Zeit, seinen Kindern zu begegnen, die Rolle als vereinender Faktor zu schultern, als ihre Stütze und Bärenstärke; warum beließ man das letztgenannte Wort eigentlich in der Bibel, statt
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