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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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Klein-Burma.
    Als es schließlich vorbei war, als sie seinen heiligen Samen empfangen hatte, trank er noch ein Glas Wein, rauchte eine Zigarette und schlief. Kein Wort. Wieder Ulf Lundell. Sie hatte ihn auf der Couch liegen lassen und war ins Schlafzimmer hinaufgegangen, und irgendwann im Laufe der Nacht war er ihrem Beispiel gefolgt. Denn nun lag er hier und schnarchte, und der Sabber hing ihm wie ein Minikondom aus dem Mundwinkel.
    So kann es nicht weitergehen, dachte sie. Das muss ein Ende haben.
    Es war ein alter Gedanke.
    Zwei Stunden später nahm er das Auto und fuhr in die Stadt. Das eine oder andere musste im Genossenschaftsladen eingekauft werden. Jedenfalls behauptete er das, aber vielleicht wollte er auch einfach nur weg.
    Sie stand am Küchenfenster, sah den alten Volvo an Groß-Burma vorbeirollen und fragte sich, ob das Telefon klingeln würde oder nicht. Sie hatte sich nicht übergeben, aber ihr war immer noch schlecht. Die Stelle unter dem Auge hatte sie mit Eis in einer Plastiktüte gekühlt.
    Aus Billys Zimmer war noch kein Mucks gedrungen, aber der Junge schlief sich am Wochenende immer aus. Bis zum Mittag oder noch länger, wenn man ihn nicht weckte.
    Ich will nicht zu ihm hineingehen und nachsehen, dachte sie. Das ertrage ich jetzt nicht.
    Und ich will nicht, dass das Telefon klingelt.
    Aber das tat es. Ungefähr fünf Minuten waren vergangen, seit sie gesehen hatte, wie das Auto verschwand, es war wie üblich.
    Im ersten Moment überlegte sie, nicht an den Apparat zu gehen, aber das brachte nichts. Er wusste ja, dass sie zu Hause war. Und Harry nicht. Das war die Raffinesse. So hatte er sich einmal ausgedrückt: Wir haben uns das mit Raffinesse eingerichtet, nicht wahr, das haben wir?
    Ansonsten sagte er nicht viel, auch er nicht.
    Also meldete sie sich. Und er kam. Es dauerte eine halbe Stunde, auch das war wie immer, und als er sie verlassen hatte, dachte sie den gleichen entschuldigenden Gedanken wie sonst auch.
    Wenn ich mich Harry hingeben kann, dann kann ich mich auch ihm hingeben. Ich kann mich jedem hingeben, es spielt wirklich keine Rolle.
    Denn mit Harry ist es immer am schlimmsten.
    Und der Junge schlief noch immer.
    Angefangen hatte es ein halbes Jahr zuvor. Zwischen dem ersten und dem zweiten Advent, sie hatte in der Küche gestanden und Kartoffeln geschält. Harry war nicht zu Hause gewesen, und am frühen Abend saß er plötzlich am Küchentisch. Das war an sich nicht weiter ungewöhnlich, aber sie hatte sich trotzdem gewundert. Sie hatte ihn nicht kommen hören, er musste sich hereingeschlichen haben. Obwohl natürlich das Radio lief, sie erinnerte sich, dass sie es ausgeschaltet hatte, als sie ihn erblickte.
    Sie hatte ihn gefragt, ob er einen Kaffee haben wollte, und er hatte den Kopf geschüttelt.
    »Es geht nicht um Kaffee.«
    Seine Stimme hatte seltsam geklungen. Sie war ihr irgendwie fremd erschienen. Als wäre er wegen irgendetwas nervös, und das war er sonst nie. Wirklich nicht.
    Also hatte sie praktisch sofort begriffen, dass etwas Besonderes war, das hatte sie.
    »Dieses Darlehen …«, hatte er gesagt.
    Sie hatte nichts erwidert. Gespürt, wie sie von Unbehagen ergriffen wurde.
    »Die Frist läuft vor Weihnachten ab.«
    »Darüber musst du mit Harry sprechen.«
    »Glaubst du, das hat einen Sinn?«
    »Wie meinst du das?«
    Die Situation hatte etwas Undeutliches – etwas, was sie nicht deuten konnte –, aber sie kehrte ihm weiter den Rücken zu und schälte Kartoffeln, das erschien ihr am sichersten. Es war nicht das erste Mal, dass er sein Geld zurückhaben wollte, sie wusste nicht, wie viel sie ihm schuldeten, aber es war sicher einiges. Harry führte den Hof nicht, wie er es tun sollte, es herrschte ständiger Geldmangel, und es war immer der Cousin auf Groß-Burma, an den man sich wandte. Jemandem wie Harry fiel es nicht leicht, seinen Stolz hinunterzuschlucken und als Bittsteller aufzutreten, das begriff nun wirklich jeder; wenn es dazu kam, steigerte es jedes Mal seine Verbitterung und Wut. Und mit ihr sprach er darüber nicht, natürlich nicht. Meinte bloß, das Leben sei ein Drecksloch. Ein ungerechtes, großes, verdammtes Drecksloch; wenn man das auf seinen Grabstein schreibe, habe er nichts dagegen einzuwenden, nicht das Geringste.
    Er hatte ihre Frage nicht sofort beantwortet, hatte mit etwas auf dem Küchentisch gespielt, ein paar Löffeln oder was auch immer, sie entsann sich eines leisen Klirrens in den Sekunden, bevor er es aussprach – bevor sie

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