Am Abend des Mordes - Roman
das rechte Bein über das linke.
»Wie bitte?«, sagte Rönn. »Wer sagt was?«
»Die Opfer von Verbrechen«, erläuterte Barbarotti. »Wenn sie nicht erzählen wollen, was wirklich passiert ist. Frauen, die gegen Türen gelaufen sind, Leute, die Treppen hinunterfallen oder von ihren Kanarienvögeln angegriffen worden sind … oder, wie gesagt, Katzen.«
Rönn strich mit einem Finger die Innenseite des Hemdkragens entlang, allerdings nicht auf der Pflasterseite, und betrachtete ihn über den Rand seiner Brille hinweg.
»I prefer to stick to my story«, sagte er. »Es war die Katze.«
Barbarotti zuckte mit den Schultern. »Okay, einverstanden, manche sagen auch die Wahrheit.«
Rönn schlug seinen schwarzen Notizblock auf und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. »Ich habe den Eindruck, dass Sie ziemlich aufgedreht sind.«
»Ist das eine Frage?«, entgegnete Barbarotti.
»Wenn Sie so wollen«, sagte Rönn.
Barbarotti dachte nach. »Ich weiß nicht, ob ich das aufgedreht nennen würde«, sagte er. »Aber es kommt mir so vor, als würde etwas mit meinem Sortierorgan nicht stimmen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Oder ich konzentriere mich auf das Falsche. Jede Menge dummes Zeug erregt meine Aufmerksamkeit, und ich stelle mir Fragen, die …«
»Ja?«, sagte Rönn interessiert.
»… die ich mir nicht mehr gestellt habe, seit ich zehn war, glaube ich. Zum Beispiel, warum das Wasser nicht durch den Grund eines Sees abläuft. Ob alle Zugvögel auf den Kurs achten müssen oder ob es reicht, wenn der Anführer das übernimmt. Aber ich weiß nicht, vielleicht sind das auch nur Anzeichen dafür, dass ich langsam verrückt werde, was uns hier nicht weiter zu interessieren braucht. Ich …«
»Ja?«
»Es fällt mir einfach schwer, mit meinem Leben zurechtzukommen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen.«
»Hm«, sagte Rönn und faltete die Hände. »Sollen wir versuchen, das Tempo ein wenig zu drosseln und etwas zu finden, worauf man stehen kann?«
»Wir?«, fragte Barbarotti.
»Sie«, antwortete Rönn. »Um genau zu sein.«
Barbarotti wechselte das Bein über dem Knie und atmete zwei Mal tief durch. »Sie haben recht«, sagte er. »Das Problem ist nur, dass ich nirgendwo Licht sehe.«
»Erklären Sie«, sagte Rönn.
Barbarotti dachte nach und versuchte, ein Bild zu finden. »Ich bin ein abstürzender Vogel. Ich schlage mit den Flügeln, was das Zeug hält, aber es … tja, es nützt auf die Dauer nichts. Ich spüre, dass ich auf jeden Fall abstürzen werde.«
Rönn nickte.
»Es sind nicht die Monate und Jahre, die so schwer sind«, fuhr Barbarotti schwermütig fort. »Es sind die Tage und Stunden. Sogar die Minuten.« Etwas, was er zweifellos irgendwo gelesen hatte.
»So ist es in der Regel«, bemerkte Rönn. »Aber wie steht es eigentlich um Ihren Glauben?«
»Meinen Glauben?«, sagte Barbarotti.
»Letztes Mal haben wir darüber gesprochen, dass Marianne heimgegangen ist und Sie sie irgendwann wiedersehen werden.«
»Umso größeren Grund habe ich abzustürzen«, sagte Barbarotti.
Rönn setzte die Brille ab. »Jetzt sind Sie zynisch. Sie haben fünf Kinder, die Sie brauchen, Sie müssen diese schwere Zeit durchstehen. Ihr Leben gehört nicht nur Ihnen allein.«
»Mein Leben gehört nicht …?«
»Exakt«, sagte Rönn. »Nicht nur Ihnen allein.«
»Da haben Sie recht«, gab Barbarotti zu. »Und deshalb bekomme ich ein schlechtes Gewissen.«
»Warum denn das?«
»Weil ich mich nicht ordentlich um sie kümmere. Weil ich das einfach nicht schaffe.«
»Das verstehen sie bestimmt«, sagte Rönn. »Können Sie mit ihnen darüber sprechen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Barbarotti. »Vielleicht. Zwischen den Jungen und mir herrscht wohl eine gewisse Funkstille … ich nehme an, das es irgendwie mit Männlichkeit zu tun hat.«
»Aber Sie haben zwei Töchter?«
»Ja. Eine zu Hause, eine in Stockholm.«
»Sie sollten weiter das Gespräch mit ihnen suchen«, sagte Rönn. »Schweigen ist eher nicht zu empfehlen.«
»Das sehe ich ein«, sagte Barbarotti. »Aber ich habe nicht das Gefühl, dass irgendetwas leichter wird. Eher ist das Gegenteil der Fall. Seither ist immerhin ein Monat vergangen.«
»Was haben Sie gedacht?«, fragte Rönn.
»Was ich gedacht habe? Ich habe gedacht, ich würde Kontakt zu ihr bekommen … irgendwie.«
»Und den haben Sie nicht bekommen?«
Barbarotti zögerte, dann schüttelte er den Kopf.
»Haben Sie von ihr geträumt?«
»Wenn man nicht schläft, träumt man
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