Am Anfang des Weges
zuckte die Schultern. »Auf ein besseres Angebot.« Sie nahm noch einen Löffel Malzcreme, dann sagte sie: »Und Sie? Verlassen Sie uns morgen Früh?«
»Das habe ich vor. Was ist denn die nächste größere Stadt?«
»Das ist immer noch Leavenworth. Bis dorthin sind es etwa zwanzig Meilen. Sind Sie schon mal dort gewesen?«
»Nein.«
»Wenn es so wäre, würden Sie sich daran erinnern. Leavenworth ist eine Touristenattraktion.«
»Worin besteht denn die Attraktion?«
»Leavenworth war früher einmal eine Holzfällerstadt. Aber nachdem das Sägewerk dichtgemacht hatte, ging es mit Leavenworth rapide bergab. Dann hatte irgendjemand die Idee, die Stadt in einen bayerischen Weiler zu verwandeln.«
»In einen was?«
»In einen bayerischen Weiler. Ein kleines Fleckchen Deutschland mitten in Washington. Jetzt darf man dort nicht einmal niesen, wenn man es nicht auf Deutsch tut. Die Leavenworther behaupten, dass sie das größte Oktoberfest außerhalb Münchens feiern. Schade, Sie haben es gerade verpasst.«
»Schlechtes Timing«, sagte ich, doch ich war froh, dass ich es verpasst hatte.
»Wie dem auch sei, der Plan ist aufgegangen. Heute zieht die Stadt jedes Jahr Millionen von Besuchern an. Sie haben ein Stadtzentrum, Parks und – man höre und staune – das größte Nussknacker-Museum der Welt. Es beherbergt an die fünftausend verschiedene Nussknacker.«
»Das muss ich mir ansehen«, sagte ich.
»Na klar«, witzelte sie. »Wissen Sie, es ist fast ein bisschen paradox, aber wenn es mit Leavenworth damals nicht so rapide bergab gegangen wäre, dann würde die Stadt heute nicht so gut dastehen, wie sie es tut. Das zeigt doch nur, dass nicht alles Schlechte im Leben wirklich schlecht ist.« Sie nahm noch einen Löffel von der Malzcreme. »Sie müssen müde sein von dem vielen Laufen.«
»Ein bisschen. Der Aufstieg zum Stevens-Pass im Schnee war recht anstrengend.«
»Das glaube ich gern. Wie geht es Ihren Füßen?«
»Sie schmerzen.«
»Kommen Sie her.« Sie stand auf, nahm meine Hand und führte mich zum Sofa. »Setzen Sie sich«, sagte sie. Ich nahm Platz, und sie setzte sich im Schneidersitz vor mir auf den Boden und band meine Schuhe auf.
»Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«, fragte ich.
»Absolut. Das heißt, falls Sie nichts dagegen haben.«
»Das habe ich ganz und gar nicht.«
Sie zog mir die Schuhe aus und begann, meine Füße sanft zu kneten.
»Sagen Sie mir, wenn es zu fest oder nicht fest genug ist.«
»Es ist genau richtig«, sagte ich.
Ein paar Augenblicke saßen wir schweigend da. Ich konnte nicht glauben, wie gut es tat, berührt zu werden. Ich lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
»Erzählen Sie mir von sich«, sagte sie.
»Das habe ich eben getan.«
»Das betraf Ihr früheres Selbst. Niemand macht all das durch, was Sie durchgemacht haben, ohne sich zu verändern.«
Ich schlug die Augen auf. »Was wollen Sie denn wissen?«
»Die wichtigen Dinge. Zum Beispiel, was Sie tun werden, wenn Sie nach Key West kommen.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht einfach immer weitergehen, ins Meer hinein.«
»Tun Sie das nicht.« Sie lächelte.
»Was wollen Sie sonst noch wissen?«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Glauben Sie an Gott?«
»Das ist vielleicht eine Frage«, sagte ich.
»Bekomme ich eine Antwort darauf?«
»Sagen wir nur so viel: Ich bin viel zu wütend auf Ihn, um nicht an Ihn zu glauben.«
»Sie machen Gott für das verantwortlich, was Ihnen widerfahren ist?«
»Vielleicht. Vermutlich.«
Sie runzelte die Stirn, und ich konnte sehen, dass ihr nicht gefiel, was ich gesagt hatte. »Ich wollte Sie nicht kränken«, sagte ich.
»Das haben Sie auch nicht. Ich frage mich nur, warum wir Gott für alles verantwortlich machen, nur nicht für das Gute. Haben Sie Ihn auch dafür verantwortlich gemacht, dass Er Ihnen Ihre Frau geschenkt hat? Wie viele Leute gibt es, die in ihrem Leben nie eine solche Liebe erfahren?«
Ich blickte zu Boden.
»Ich will damit nicht sagen, dass Sie nicht das Recht haben, wütend zu sein. Das Leben ist hart.« Die Art, wie sie das sagte, ließ erkennen, dass sie wusste, wovon sie sprach. Ich musste an ihre Narben denken.
»Darf ich Sie fragen, was mit Ihrem Handgelenk passiert ist?«
Sie hörte auf, meinen Fuß zu massieren, und senkte für einen Moment den Blick. Als sie wieder zu mir hochsah, lag eine Kraft in ihren Augen, die ich bis dahin noch gar nicht an ihr bemerkt hatte. »Na ja, wie ich schon sagte«, begann sie leise, »das
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