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Am Anfang des Weges

Am Anfang des Weges

Titel: Am Anfang des Weges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Paul Evans
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Leben ist hart. Mein Stiefvater hat mich sexuell missbraucht, seit ich sieben war. Mit zwölf kam ich zu dem Schluss, dass der einzige Ausweg wäre, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Aber es floss eine Menge Blut, bis ein Nachbarsmädchen dann den Notarzt gerufen hat.
    Im Krankenhaus hat mich eine Sozialarbeiterin dazu gebracht, ihr zu erzählen, warum ich mir die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Mein Stiefvater kam schließlich für sieben Jahre ins Gefängnis. Meine Mutter gab mir die Schuld an der ganzen Situation. Sie beschuldigte mich, ihn verführt zu haben, und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Daher kam ich, als ich dreizehn war, in das erste einer ganzen Reihe von Heimen. Mit fünfzehn bin ich von meinem sechsten Pflegeplatz abgehauen, zusammen mit meinem neunzehnjährigen Freund, der irgendwann genug von mir hatte und mich sitzen ließ.
    Ich habe fast ein Jahr lang auf den Straßen von Dallas gelebt, bis ich in einem Walmart beim Ladendiebstahl erwischt wurde und für drei Monate in die Jugendstrafanstalt von Dallas County gesteckt wurde.
    Dort habe ich Leah kennengelernt. Leah war schon älter. Sie war keine jugendliche Straftäterin, sondern eine der ehrenamtlichen Gemeindehelferinnen. Sie wurde meine Freundin und Mentorin. Als ich entlassen wurde, wollte sie, dass ich bei ihr einzog. Ich versprach ihr zunächst nicht mehr, als dass ich eine Woche lang bleiben würde. Aber sie war so gut zu mir, dass ich immer wieder um eine Woche verlängert habe.« Sie lächelte liebevoll bei der Erinnerung. »Ich blieb bei ihr, bis ich zwanzig war und wegging, um das College zu besuchen.«
    Sie streifte den Ärmel hoch und zeigte mir die beiden großen Narben an ihrem Handgelenk. »Es ist seltsam, aber jetzt bin ich dankbar für sie. Sie sind eine Mahnung für mich.«
    »Wozu ermahnen sie Sie?«
    Sie sah mir in die Augen. »Zu leben.«
    Ich dachte über ihre Worte nach. »Als McKale starb, da hätte ich mir fast das Leben genommen. Ich wollte Tabletten nehmen.«
    »Was hat Sie davon abgehalten?«
    »Eine Stimme.« Ich kam mir komisch vor, als ich das sagte, aber Ally schien es kein bisschen seltsam zu finden.
    »Was hat die Stimme gesagt?«
    »Sie hat mir gesagt, dass ich kein Recht hätte, mein Leben zu beenden.« Ich rieb mir das Kinn. »Kurz bevor sie starb, hat McKale mir das Versprechen abgenommen zu leben.«
    Sie nickte. »Ich glaube, wir müssen uns alle erst dafür entscheiden. Im Diner begegnen mir jeden Tag tote Leute.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Menschen, die aufgegeben haben. Das ist alles, was der Tod von uns verlangt – dass wir das Leben aufgeben.«
    Ich fragte mich, ob ich ein solcher Mensch war.
    »Die Sache ist die: Das einzige wirkliche Zeichen von Leben ist Wachstum. Und Wachstum erfordert Schmerz. Sich für das Leben zu entscheiden heißt, den Schmerz zu akzeptieren. Manche Leute betreiben einen solchen Aufwand, um Schmerz zu vermeiden, dass sie dabei das Leben aufgeben. Sie begraben ihr Herz, oder sie betäuben sich mit Drogen oder Alkohol, bis sie gar nichts mehr fühlen. Die Ironie dabei ist, dass ihre Flucht dadurch letztendlich noch schmerzlicher wird als das, wovor sie fliehen.«
    Ich blickte zu Boden. »Ich weiß, dass Sie Recht haben. Aber ich weiß nicht, ob ich ohne McKale leben kann. Ein Teil von mir ist mit ihr gestorben.«
    »Es tut mir so leid.« Sie massierte meine Waden. Einen Augenblick später sagte sie: »Wissen Sie, sie ist nicht wirklich von Ihnen gegangen. Sie ist noch immer ein Teil von Ihnen. Welcher Teil von Ihnen, das ist Ihre Entscheidung. Sie kann eine Quelle der Dankbarkeit und der Freude sein, sie kann aber auch eine Quelle der Bitterkeit und des Schmerzes sein. Es liegt ganz bei Ihnen.«
    Der Gedanke, dass ich McKale zu etwas Schlechtem machte, war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen.
    »Sie müssen lernen, durch den Schmerz hindurchzusehen.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Leah hat mich gelehrt, dass das größte Geheimnis des Lebens darin besteht, genau das zu finden, was man sucht. Trotz all der Dinge, die uns zustoßen, entscheiden wir letztendlich selbst, ob unser Leben gut oder schlecht ist, hässlich oder schön.«
    Ich dachte darüber nach.
    »Leah hat mir einmal eine Geschichte erzählt. Irgendeine Zeitung führte ein Experiment durch. Ich weiß nicht mehr, in welcher Stadt es war, jedenfalls schickten sie einen Mann mit einer Geige hinunter in die U-Bahn, damit er dort Musik machte. Es war zur

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