Am Anfang war das Ende (German Edition)
quietschenden Reifen anhält und die Staubwolke hinter ihm über die Steppe davonwirbelt, rufe ich dem Ganser zu: »Fang mich auf!« Dann stürze ich mich von der Plattform.
Im selben Augenblick sehe ich, dass er im Jeep sitzen bleibt. Verflixt, denke ich, ich hab’s schon immer zu eilig gehabt. Im letzten Moment breite ich die Arme aus und merke zu meiner großen Erleichterung, dass sie tragen. Ich segle einmal um den Jeep und lande ziemlich elegant auf der Motorhaube.
»Judit!«, ruft er erstaunt und stößt die Wagentür auf.
»Du bist zu langsam«, sage ich. »Das hier ist ein Actionfilm.«
»Mensch, Mädchen, was machst du hier?«
»Das fragst ausgerechnet du?«, sage ich und lache.
»Wenn du wüsstest, wie wir nach dir gesucht haben«, sagt er.
Das macht mich froh, aber auch etwas verwirrt. »Welche Zeit haben wir gerade?«, will ich wissen.
Er wirft einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Eine Minute vor zwölf.«
Ich schenke ihm ein schiefes Lächeln. »Sehr witzig. Ich meine, welche Epoche. Welches Jahrhundert oder so.«
»Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht.«
»Und welcher Tag ist heute?«
Er schüttelt den Kopf.
Und der will Lehrer sein, denke ich. Ein Glück, dass wir einen Kalender haben.
»Es gibt eine Menge Sachen, die ich dich fragen will«, sage ich.
»Das merke ich.«
»Übrigens, wo ist Oma Duck?«
»In der Kita. Bei der Arbeit.«
»Wir könnten sie hier gut gebrauchen. Hier wimmelt es von Kindern.«
Da kommen plötzlich auch Gun-Helen und Red Bull. Ich begrüße sie reserviert. Gun-Helen merkt natürlich, dass etwas nicht in Ordnung ist.
»Aber was ist denn, Schätzchen?«, fragt sie.
»Alles«, sage ich. »Es ist alles nur beschissen. Fangen wir mal mit der toten Familie an. Da stimmt doch was nicht, oder?«
Sie sieht mich nachdenklich an. Dann nickt sie. »Mir war klar, dass du das bemerken würdest.«
»Ich würde gern mit ihnen reden«, sage ich.
Da mischt sich Red Bull ein. »Das geht nicht«, sagt er schnell. »So funktioniert das nicht.«
»Aber es ist wichtig«, beharre ich.
Red Bull und Gun-Helen schütteln im Takt die Köpfe.
»Es geht um Leben und Tod«, sage ich.
Da drehen sie sich um und gehen weg.
»Was zum Teufel wird aus uns, wenn wir sterben?«, schreie ich.
•
Ich wache auf, weil ich Stimmen höre. Sie sind vom Meer zurückgekommen, denke ich und stehe automatisch auf, um ihnen entgegenzugehen und ihnen zu helfen. Aber im selben Moment, als ich einen Schritt in die Luft hinaus machen will, entdecke ich, dass ich mich oben auf der Plattform befinde. Das heißt – entdecken? Es ist eher so, als würde etwas mich hindern,
als würde mir jemand eine Hand auf die Schulter legen.
Meine Beine fangen an zu zittern, und ich sinke auf den Bretterboden. Dort bleibe ich lange sitzen und versuche, das Ziehen im Magen loszuwerden. Doch das scheußliche Gefühl behält mich im Griff. Es ist deutlicher und ganz anders als alles Schwindelerregende, das ich in letzter Zeit erlebt habe.
Wirklicher
, möchte ich fast schreiben.
Also bleibe ich sitzen und sehe, wie sie ihre Muschelkörbe anschleppen. Vendela und Hänfling verschwinden fast hinter ihren Lasten. Sie schwanken ins Haus und kommen kurz darauf wieder ins Freie. Hänfling hilft Vendela, ihren Zopf von einem langen Strang aus Tang zu befreien, der darin hängen geblieben ist. Sie lacht über ihn, als er sich den Tang auf den Kopf legt. Als ich sie von hier oben sehe, wird mir deutlich, wie ähnlich sie einander sind. Nicht nur, weil sie den gleichen schlaksigen Körperbau haben, die gleichen beobachtenden, wehmütigen Augen. Nein, von hier oben sehe ich noch etwas anderes. Die Choreographie stimmt. Sie bewegen sich gleich, ihre Gliedmaßen sind auffallend im Einklang, es ist, als gehörten Arme und Beine ein und demselben Körper. Sie müssen Zwillinge sein, denke ich, und verstehe nicht, wie ich das bisher übersehen konnte. Doch das liegt natürlich an allem anderen. Weil alles so ist, wie es ist. Spielt es überhaupt eine Rolle, ob man Geschwister hat oder nicht, wenn die ganze Welt zusammenbricht?
•
Als ich nach unten klettere, spüre ich förmlich, wie mein Körper ins Krisendasein zurückkehrt. Unter dem Baum bleibe ich stehen und schaue zum Ausguck hinauf. Was war das wohl, was ich da oben gerade empfunden habe? Doch dann verscheuche ich diese Gedanken und höre Benjamin hinter mir fragen: »Alles okay?«
Und als ich antworte: »Weit und breit nichts zu sehen«, bin ich mir plötzlich
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