Am Anfang war das Ende (German Edition)
Mädchen mit großen Brüsten. Viele der Gesichter kommen mir bekannt vor. Ich bin mir fast sicher, dass die Zeitung aus meiner Zeit stammt.
Gabriel und ich betreten eines der Schlafzimmer der Zwillinge. Ein Bett mit einem weißen Überwurf. Ein Schreibtisch. Ein roter Sitzsack. Eine Tapete mit einem Muster aus rosa und hellblauen Vögeln, teilweise verdeckt von Pferdebildern und blaugelben Schleifen mit der Aufschrift 1 . PREIS . Auf den meisten Bildern ist ein weißes Pony mit langer Mähne und munteren Augen zu sehen.
Lady
steht darunter, manche sind mit einem roten Herzen verziert. Der Zwilling ist also ein Pferdemädchen. Wo Lady jetzt wohl sein mag?
Dinah lässt sich in den Sitzsack sinken.
»Nicht mal Staub gibt es in diesem Haus«, sagt sie. »Alles hier müsste doch von einer dicken Staubschicht bedeckt sein.«
»Und von Spinnweben«, sage ich.
Gabriel schüttelt den Kopf. »Spinnen gibt’s hier wohl kaum, Judit.«
»Woraus entsteht Staub überhaupt, ich meine, woraus besteht er?«
»Keine Ahnung«, sagt Gabriel. »Staub gibt’s doch überall.«
»Oder nur überall, wo es Leben gibt?«, sage ich.
»Vielleicht«, sagt Gabriel.
XII
In dieser Nacht schlafen wir im Obergeschoss im Doppelbett des Elternschlafzimmers. Wir liegen eng aneinandergeschmiegt und wärmen uns gegenseitig. Es ist das erste Mal seit langem, dass ich in einem Bett liege, und ich genieße das Gefühl der weichen Matratze an meinem Rücken.
Ich schlafe fast sofort ein und lande in einem Traum, der so realistisch ist, dass es mir schwerfällt zu unterscheiden, ob ich wirklich mit den anderen im Bett liege und träume, oder ob der Traum mein echter Zustand ist und ich nur träume, dass ich mit meinen Freunden in einem fremden Haus in einem Doppelbett liege. Im Traum ist das überhaupt nicht kompliziert, im Traum erscheint es mir irgendwie glasklar, und ich kann mich problemlos zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten bewegen.
Ich sitze mit meinen Eltern vor dem Fernseher beim Essen, es ist Samstagabend, und es gibt Brathähnchen mit gebackenen Auberginen, mein Lieblingsessen. Pompom liegt auf meinem Schoß und wartet darauf, dass ich ihm etwas zustecke. Im Fernsehen läuft das Schlagerfestival, mir gefällt ein dunkelhaariger Junge mit Gitarre am besten, den meine Eltern gar nicht gut finden und über den sie Witze machen. Papa ist für eine kurvenreiche Sängerin, die Mama als ordinär bezeichnet, aber ich weiß genau, dass Papa Mama nur ärgern will. Es gewinnt dann eine Popgruppe, von der Mama behauptet, sie sei absolut spitze. Das sagt sie allerdings erst, nachdem die Gruppe gewonnen hat, was Papa natürlich nicht gelten lässt. Ich muss über die beiden lachen und gehe ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Als ich zurückkomme, sitzen Pompom und Papa allein auf dem Sofa und schauen Nachrichten. Die handeln fast nur vom Wetter, darum höre ich gar nicht erst zu. »Wo ist Mama?«, frage ich. »Mama?«, sagt Papa, »wer ist das?« »Sie ist rausgegangen, eine rauchen, stimmt’s?«, sage ich, weil ich solche Witze gar nicht leiden kann. Das macht mir nämlich am allermeisten Angst: die Vorstellung, Mama und Papa könnten einmal nicht mehr da sein. Sie wären verschwunden, und ich wäre allein auf der Welt.
Als ich aufwache, dauert es eine Weile, bis ich begreife, wo ich mich befinde. Ich muss mitten im Traum aufgewacht sein. Pompom, flüstere ich, und dabei laufen mir Tränen übers Gesicht. Dann erinnere ich mich an den Geschmack von Auberginen, und plötzlich schnürt sich mir vor Hunger der Magen zu. Ich lausche auf die ruhigen Atemzüge von Dinah, David und Gabriel. Sie schlafen tief und fest, genau wie ich es eben noch getan habe.
Auf einmal höre ich ein Geräusch, ein fernes, aber deutlich vernehmbares Geräusch. Sofort bin ich hellwach und richte mich im Bett auf. Da höre ich es wieder. Es klingt, als würde jemand weinen. Erst glaube ich, dass es von draußen kommt, doch bald wird mir klar, dass das Geräusch irgendwo aus dem Haus kommen muss. Aus der Küche, denke ich zuerst. Doch dann merke ich, dass es von unten heraufdringt, wie von unter dem Haus. Ich überlege, ob ich die anderen wecken oder allein nach unten gehen soll.
Schließlich klettere ich vorsichtig aus dem Bett. Inzwischen kommt das Geräusch in größeren Abständen. Lange Zeit ist es still, dann höre ich es plötzlich wieder. Doch, ja, da weint jemand. Da weint ein Kind. Ich gehe die Treppe hinunter in die Diele. Im ganzen Haus ist es dunkel.
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