Am Anfang war das Ende (German Edition)
gestorben ist, atmen und leben können? Genauso wenig wie die anderen will ich diese Frage stellen, weil mir nur noch eine schwache Hoffnung bleibt, und die will ich mir so lange wie möglich bewahren: Die Erklärung muss sein, dass doch nicht alles gestorben ist. Dass es Leben gibt, anderswo. Wenn auch nicht direkt hier. An diesem Ort hat es aufgehört.
XI
Vor dem Küchenfenster fällt die Dämmerung. Wir stehen schweigend da und beobachten das bräunliche Licht, das sich über den Garten senkt. Ich spüre, dass auch damit etwas nicht in Ordnung ist, nämlich mit der Farbe. Meistens mag ich den Einbruch der Dämmerung. Jetzt finde ich ihn nur bedrückend. Es ist, als würde die Dunkelheit wie ein Rollo heruntergelassen, ohne Nuancen und Übergänge. Ich schaue die tote Familie am Küchentisch wieder an. Sie sitzen da wie in einem alten Schwarzweißfilm.
Gabriel tritt an die Spüle und dreht an den Wasserhähnen. Wir warten lange. Aber nichts passiert.
»Gehen wir zurück?«, fragt er.
Dinah schüttelt den Kopf. »Heute Nacht bleiben wir hier.«
»Ob es hier was zu essen gibt?«, sage ich und öffne den Kühlschrank.
Ich weiß nicht recht, was ich erwartet habe. Oder doch: Ich habe erwartet, nichts vorzufinden, einen leeren, sauberen Kühlschrank zu sehen, genauso steril wie alles andere hier. Darum stoße ich einen Ruf des Erstaunens aus, als ich sehe, dass er voller Lebensmittel ist. Da stehen mehrere Becher Joghurt, eine Schüssel mit Eiern, Butter und vieles andere. Der vertraute Anblick bringt mich fast zum Weinen.
»Fass nichts an!«, sagt Dinah schnell.
»Du meinst, das ist gefährlich?«, frage ich. »Denkst du, dass die am Essen gestorben sind?«
Dinah zuckt die Schultern. »Die Sachen müssen auf jeden Fall uralt sein.«
»Schau doch aufs Datum, dann wissen wir, wann sie gestorben sind«, schlägt David vor und deutet auf die Joghurtbecher.
Ich nehme einen davon aus dem Schrank, aber bereits als ich ihn in der Hand halte, begreife ich, dass etwas nicht stimmt. Er wiegt nichts, nicht mehr als die Verpackung.
»Der Becher ist leer«, sage ich verblüfft. »Scheint aber nicht geöffnet worden zu sein.«
Ich nehme einen anderen Becher. Der ist genauso leicht. Ich halte ihn mir vor die Augen.
»Ich kann kein Datum erkennen«, murmele ich. »Es scheint verblasst zu sein.«
»Der Joghurt ist garantiert verdunstet, der muss ja steinalt sein«, meint Gabriel.
Auch die anderen Lebensmittel sehen eigenartig aus. Oder besser gesagt, sie sehen unnatürlich natürlich aus, als hätte die Zeit selbst sie konserviert.
»Jedenfalls gibt es hier nichts Essbares«, seufze ich und schließe den Kühlschrank.
Plötzlich fällt mir etwas ein. Ich öffne die Tür noch einmal und strecke eine Hand hinein.
»Es ist ja nicht mal kalt da drin!«
»Weil es keinen Strom gibt, Judit«, sagt Dinah.
•
Wir gehen durchs Haus und bewegen uns langsam. Ich weiß nicht, ob aus Vorsicht oder weil es sich komisch anfühlt, im Haus einer fremden Familie zu sein – vor allem, wenn die ganze Familie in der Küche sitzt und tot ist. Das restliche Haus ist so wie die Küche, das heißt, wie ein normales Zuhause, wo normale Menschen ein normales Leben führen oder: geführt haben. Im Wohnzimmer stehen normale Möbel. Eine Sitzgruppe vor dem Fernseher, eine vergoldete Wanduhr, die auf fünf vor zwölf stehengeblieben ist. Landschaftsbilder an den Wänden. In den Fenstern Blumentöpfe, aber ohne Blumen. David dreht einen der Töpfe um und hält ihn hoch, um zu zeigen, dass keine Erde darin ist. Das Bücherregal erkenne ich, Billy, das gleiche hatten wir bei uns zu Hause. Ich nehme eins der Bücher heraus, ein altes, zerlesenes Taschenbuch, und als ich den Titel lese, bekomme ich wieder mal eine Gänsehaut. »Die Geheime Gesellschaft«, steht auf dem Umschlag, »von Claes Hylinger«. Genau dieses Buch hat Gabriel in die Schule mitgebracht. Ich sehe mich rasch um, plötzlich kommt es mir nämlich vor, als wollte mich jemand zum Narren halten. Als würde man mir eine Falle stellen. Aber alles ist still. Still und unnatürlich ruhig. Erst nehme ich mir vor, das Buch den anderen zu zeigen, doch dann überlege ich es mir anders und stelle es wieder zurück.
In einem Korb neben dem Couchtisch liegt ein Stapel Zeitungen. Ich nehme eine und schaue nach dem Datum, aber das scheint ebenfalls verblasst zu sein. Als ich die Zeitung durchblättere, sehe ich Fotos von Promis, Schauspielern, Mitgliedern der Königsfamilie, Sportlern, blonden
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