Am Anfang war das Ende (German Edition)
und beginne mich vorsichtig dem Hof zu nähern. Der Graben endet kurz vor der Hecke, das letzte Stück krieche ich bäuchlings voran, bis ich hinter einem Baumstamm Schutz finde. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass Dinah und David zu mir unterwegs sind. Geduckt folgen sie der Hecke und sinken schließlich neben mir auf den Boden.
»Ist Gabriel schon dort?«, flüstere ich.
Dinah nickt.
»Es wirkt alles so ruhig und friedlich«, sage ich.
»Vielleicht ist gar niemand da«, sagt Dinah. »Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein, bis wir es ganz sicher wissen.«
»Ich hab schon befürchtet, es könnte Hunde geben«, sage ich.
Kurz darauf sehen wir Gabriel über den Hof kommen. Er bleibt stehen und ruft: »Weit und breit keine Menschenseele!«
Wir erheben uns und schlüpfen durch die Hecke.
»Alles wie ausgestorben«, sagt Gabriel. »Der Stall ist leer. In der Scheune stehen ein Traktor und ein Auto, aber die scheinen schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein.«
»Und das Wohnhaus?«
»Scheint menschenleer zu sein. Die Türen sind abgeschlossen.«
»Okay. Gut. Schauen wir uns mal um, aber seid vorsichtig!«
Ich überquere den verlassen daliegenden Hofplatz in Richtung Wohnhaus. Es ist ein schöner zweigeschossiger Bau mit einer Veranda und darüber einem Balkon. Eine Tür, die Haustür, führt auf die Veranda, in den Fenstern hängen dünne weiße Vorhänge. Ich beschließe, einmal ums Haus zu gehen. Gleich an der ersten Ecke steht ein Holzfass mit etwas Wasser darin, wahrscheinlich Regenwasser. Auf der Giebelseite ist wieder eine Tür, abgeschlossen, wie Gabriel gesagt hat. Wahrscheinlich die Küchentür, denke ich.
Also gehe ich um die nächste Ecke und spähe durch eines der Fenster an der Rückseite. Ja, genau, das hier ist die Küche. Ich sehe einen vertrauten Electrolux-Herd, fast den gleichen, den wir zu Hause hatten. Neben dem Herd sehe ich einen dieser altmodischen Holzherde, die es bei Oma im Haus gab. Und daneben steht ein weißer Kühlschrank, an dessen Tür von magnetischen Marienkäfern gehaltene Zettel hängen. An der Wand über der hellen Arbeitsfläche aus Holz verläuft ein Band aus blauweißen Kacheln, die wie neu aussehen. Plötzlich wird mir bewusst, wie wichtig all das einmal war. Wie oft haben wir am Küchentisch gesessen und uns über dies und das unterhalten. Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, läuft es mir kalt über den Rücken. Ich starre durch das Fenster. Bleibe lange so stehen, ohne mich rühren zu können. Dann schreie ich:
» DINAH !«
Als die anderen angestürzt kommen, sinke ich, den Rücken an die Hauswand gepresst, zu Boden und breche in Tränen aus.
»Aber was ist denn, Judit?«
»Da drinnen sitzt eine ganze Familie! Am Küchentisch!«
Sie starren mich an. Dinah dreht sich zu Gabriel um. »Hast du nicht gesagt, du hättest das ganze Haus gecheckt?«
»Das eine Fenster hab ich nicht mehr geschafft …«
»Es spielt keine Rolle, Gabriel«, sage ich. »Sie sind tot.«
X
David schlägt eine Scheibe im Küchenfenster ein. Und wenn ich nicht dabei gewesen wäre, würde ich es nicht glauben: Es ist kein Ton zu hören. Kein Krachen, kein Klirren. Es ist, als saugte die absolute Stille ringsum die Geräusche auf … Oder vielleicht bin ich auch nur etwas überspannt, nach allem, was ich erlebt habe? David schiebt den Arm durch die zerbrochene Scheibe und hängt die Fensterhaken aus. Dann öffnet er das Fenster, und Dinah klettert hinein. David und Gabriel folgen ihr. Ich zögere kurz, bevor ich es ihnen nachtue.
In der Küche ist es dämmrig. Absolute Stille auch hier. Keine Uhren, die ticken, keine tropfenden Wasserhähne, keine rauschenden Rohre, keine Schritte, keine huschende Hauskatze. Nur eine Rolle Haushaltspapier, die auf der Spüle steht und schwach, fast gespenstisch im Luftzug des offenen Fensters flattert. Und der Anblick der alltäglichen weißen Rolle verhext mich. Es ist wie ein friedlicher Gruß aus der Welt, wie ich sie kenne. Die Rolle erfüllt mich mit einer vagen Hoffnung. »Haushaltsrolle«, murmle ich wie ein Mantra. »Gute alte Haushaltsrolle.«
Dinah steht am Küchentisch und betrachtet die Familie. Ein Mann, eine Frau und zwei Mädchen, ungefähr zehn Jahre alt. Die Mädchen haben dunkle, glänzende Haare, leicht gelockt und mit schwarzen Haarspangen hinten hochgesteckt. Sie tragen identische weiße Kleider, mit einem Muster aus roten und blauen Sommerblumen. Zwillinge, denke ich. Das sind Zwillinge. Der Mann und die Frau
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