Am Anfang war das Ende (German Edition)
Als ich aus dem Fenster spähe, sehe ich nur kompakte Finsternis. Ich lausche. Das Weinen scheint aufgehört zu haben. Aber kaum will ich wieder nach oben gehen, fängt es wieder an. Jetzt bin ich mir sicher, dass es von unten kommt, vielleicht aus einem Keller. Bei meiner Oma gab es, unterm Flickenteppich verborgen, im Küchenboden eine Luke. Wenn man sie öffnete, sah man eine steile Treppe, die in einen Vorratskeller führte. Als Kind fand ich das unglaublich spannend. Ich stand oft barfuß auf dem Teppich und spürte die Ränder der Luke und den eingeklappten Griff unter meinen Zehen.
Jetzt dagegen bin ich nicht so scharf darauf, die Küche zu betreten und nach einer Luke im Fußboden zu suchen. Ich muss mich dazu zwingen, zur Küchentür zu gehen. Aber als ich die Klinke nach unten drücke, um sie zu öffnen, passiert nichts. Erst nachdem ich lange mit der Klinke in der Hand dagestanden habe, begreife ich, dass die Tür abgeschlossen ist. Da drücke ich die Klinke noch einmal herunter und presse die Schulter gegen die Tür. Sie lässt sich nicht öffnen! Plötzlich höre ich das Geräusch wieder, lauter diesmal, es kommt aber immer noch von unten. Mein Herz hämmert wie wild. Was geht hier vor?, denke ich. Was erlebe ich da gerade?
Meine Beine zittern. Meine Hand hält die Klinke immer noch krampfhaft fest, wie festgefroren. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ins Schlafzimmer zurückkehren geht nicht, weil meine Beine mich nicht tragen. Ich traue mich kaum zu atmen.
Was dann geschieht, weiß ich nicht. Vielleicht habe ich einen Blackout vor Angst. Oder ich schlafe vor Erschöpfung ein. Vage kann ich mich daran erinnern, wie ich zu einem Häuflein auf dem Boden zusammensinke und die Arme um mich schlinge.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich vor der Küchentür. Draußen wird es allmählich hell. Im Haus ist es ganz still. Die Erinnerung an das eigenartige Geräusch erscheint mir auf einmal seltsam fern. Langsam stehe ich auf und drücke die Klinke an der Küchentür nach unten. Die Tür gleitet ohne weiteres auf. Ich betrete die Küche und sehe die tote Familie genauso regungslos wie am Tag zuvor am Tisch sitzen. Suchend blicke ich über den Fußboden und hebe einen grauen Flickenteppich hoch. Darunter befinden sich nur Bodenbretter.
»Was ist los, Judit?«
Ich zucke zusammen, als ich Dinahs Stimme höre, und drehe mich um. Sie steht in der Türöffnung.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Heute Nacht hab ich so komische Geräusche gehört, sie kamen von unten, wie aus einem Keller. Und die Küchentür war abgeschlossen.«
Dinah sieht mich an, sagt aber nichts.
»Es klang, als würde ein Kind weinen«, fahre ich fort. »Ich bin aufgewacht und nach unten gegangen, um nachzusehen. Dann hab ich die halbe Nacht vor der Küchentür gehockt. Aber erst jetzt, nachdem es hell geworden ist, lässt sie sich öffnen.«
»Wir müssen checken, ob es überhaupt einen Keller gibt«, sagt Dinah.
»In diesem Haus ist etwas ganz und gar nicht geheuer«, sage ich.
XIII
Wir sitzen im Garten. Oder vielmehr in dem, was einmal ein Garten war. Das Licht ist unerträglich, darum haben wir die Augenbinden wieder umgelegt. Gabriel hat einen schattigen Platz an der Hauswand gefunden. Es ist ein komisches Gefühl, mit den anderen hier in der Hitze zu sitzen und ihnen von meinen nächtlichen Erlebnissen zu erzählen. Je länger ich darüber rede, desto unglaubwürdiger klingt es in meinen Ohren. Ich muss an meinen Traum denken, den ich kurz vor dem Aufwachen hatte. Vielleicht habe ich nur geträumt, dass ich aufgewacht bin. Das würde bedeuten, dass gar nichts passiert ist. Obwohl, irgendetwas
muss
passiert sein.
»Jedenfalls will ich nicht wieder ins Haus zurück«, sage ich.
»Das brauchst du auch nicht«, sagt David.
»Vielleicht sollten wir das Landesinnere erforschen«, meint Gabriel.
Dinah schüttelt den Kopf. »Noch nicht«, sagt sie. »Zuerst müssen wir ein Basislager errichten, an einem sicheren Ort.«
»In der Nähe des Wassers«, sage ich schnell. »Es ist ein besseres Gefühl, nah beim Meer zu sein.«
»Ja, wir müssen sowieso das Floß abladen. Und danach sollten wir unser Lager an der Innenseite des Walls aufschlagen«, sagt Dinah.
Damit sind alle einverstanden. Im Meer gibt es noch genügend Nahrung. Und wenn es uns gelingt, das Floß zu bergen, können wir notfalls jederzeit weitersegeln. Vielleicht wäre das sowieso besser, als an diesem unheimlichen Ort zu bleiben.
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Als wir zum großen Wall kommen,
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