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Am Anfang war das Ende (German Edition)

Am Anfang war das Ende (German Edition)

Titel: Am Anfang war das Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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sind festlich gekleidet. Die Frau trägt ein rotes Kostüm und eine silberne Kette mit einem Anhänger, kreisrund mit einem kleinen grünen Edelstein in der Mitte. Der Mann hat ein Sakko an, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Nicht unbedingt die Kleider, die man für ein Abendessen in der Küche anzieht. Vielleicht haben sie etwas gefeiert, denke ich. Aber auf dem Tisch ist nichts zu sehen, was meine Überlegung bestätigen könnte. Keine Teller, keine Gläser, kein Besteck, keine Platten mit schimmeligem Essen. Seltsam, denke ich. Wenn man am Esstisch feiert, pflegt man doch auch etwas zu essen.
    Da sehe ich, was die Familie macht: Sie bilden einen Tischkreis. Alle vier lassen die Arme neben den Stühlen herabhängen und halten einander an den Händen. Sie beten, denke ich. Sie sprechen ein Tischgebet. Aber vielleicht beten sie auch um ihr Leben.
    Doch das Seltsamste von allem ist, dass der Mann und die Frau und die beiden Mädchen so lebendig aussehen. Es ist, als würden sie nur kurz über den Inhalt des Gebets nachdenken, um dann gleich wieder aufzuwachen, redend und lachend.
    Nicht der geringste Hauch von Geruch, keine Anzeichen von Krankheit, keine Flecken von Blut. Als würden vier angezogene Schaufensterpuppen um den Tisch sitzen. Als hätte sich jemand einen makabren Scherz ausgedacht, jemand, der plötzlich aus dem Besenschrank hervorspringen und »April, April!« rufen würde.
    Als ich niederknie, um Blickkontakt mit der Frau zu bekommen, sehe ich, dass sie total kohlschwarze Augen hat. Ihre Augen sind oval wie Oliven, aber irgendwie fließend in der Form. Mir kommt es vor, als würde die Schwärze sich an den Rändern leicht bewegen, fast wellenartig. Ich spüre, wie ich irgendwie in ihren Blick hineingezogen werde, wie mein eigener Blick allmählich verschwimmt. Schnell schließe ich die Augen und strecke den Rücken.
    »Was ist, Judit?«
    »Die Augen«, flüstere ich. »Sie haben keine Augen. Da sind nur schwarze Löcher. Total gruselig!«
    Dinah nickt. »Es sieht aus, als würden sie schlafen.«
    »Aber das tun sie nicht, sie starren irgendwie geradeaus.«
    David bückt sich, schiebt die Tischdecke beiseite und schaut unter den Tisch.
    »Schaut mal!«, sagt er.
    Ich bücke mich widerstrebend. Im Halbdunkel unter dem Tisch liegen eine große schwarzweiße Katze und ein struppiger brauner Hund. Auch die beiden sehen aus, als machten sie nur ein Nickerchen. Erleichtert stelle ich fest, dass ihre Augen geschlossen sind. Die Katze hat ein rotes Halsband, an dem ein Glöckchen hängt, ihr Kopf ruht zwischen den ausgestreckten Vorderpfoten des Hundes. Dinah stupst den Hund behutsam. Es ist ein mittelgroßer Terrier.
    »Die sind wohl alle gleichzeitig gestorben«, sagt sie.
    »Aber sie müssen doch schon seit langem tot sein«, sage ich. »Warum sehen sie dann so lebendig aus?«
    Dinah schüttelt den Kopf und steht auf. »Irgendwas stimmt hier nicht«, sagt sie.
    »Es ist, als wäre irgendwann die Zeit stehen geblieben«, sagt Gabriel.
    »Ja«, sage ich. »Man hat das Gefühl, als könnte man sie wieder in Gang setzen und die Leute hier aufwecken, wenn man nur wüsste, wie man das anstellen soll. Wie im Märchen, wenn jemand verzaubert worden ist. Da muss man nur die richtige Formel finden, um den Verzauberten wieder zum Leben zu erwecken.«
    Gabriel schüttelt den Kopf. »Das hier ist kein Märchen, Judit. Hier scheint alles Leben aufgehört zu haben, und wie es aussieht, ist das auf einen Schlag passiert.«
    Wahrscheinlich hat er recht. Die absolute Stille, die hier herrscht, hat nichts mit ländlichem Frieden zu tun, wie ich anfangs glauben wollte. Nicht, dass ich das im tiefsten Innern wirklich geglaubt hätte. Es ist nur die Alternative so unheimlich: ein glasklares Nichts, eine absolute Abwesenheit von Leben.
    »Aber nichts hier sieht tot aus«, wende ich ein. »Alles scheint nur zu ruhen. Als wäre es Herbst oder Winter.«
    »Das kann daran liegen, dass nichts abgebaut wird oder verfault. Vielleicht gibt‘s hier nicht mal Bakterien, Judit.«
    »Du irrst dich«, sage ich. »Es gibt jede Menge weiße Vögel. Und die leben doch.«
    »Die halten sich an der Küste auf.«
    Ich sage nichts mehr, bin aber voller Worte, Gedanken und Fragen. Je mehr ich begreife, desto entsetzlicher werden die Schlussfolgerungen, die ich ziehen muss. Die große Frage, die uns alle bewegt und die wir tunlichst nicht laut aussprechen, ist: Warum können
wir
hier existieren? Wie kommt es, dass wir in einer Welt, die

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