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Am Anfang war das Ende (German Edition)

Am Anfang war das Ende (German Edition)

Titel: Am Anfang war das Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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vermeiden es, die Menschen im Wohnhaus zu erwähnen, weil das zu beklemmend ist, zu unerklärlich. Der Magen zieht sich zusammen, wenn man daran denkt und gleichzeitig an die vielen Ratten oben auf dem Heuboden. Dennoch spüre ich, dass es irgendeine Bewandtnis mit ihnen hat, mit ihnen und mit dem Hof, mit den Zwillingen. Mit dem Gesicht im Fenster.
    »Am liebsten lebendige«, sage ich.
    »Und friedliebende«, sagt David. »Am liebsten keine Terroristen.«
    Wir wandern stundenlang am Ufer entlang. Wenigstens kommt es mir so vor. Keiner von uns hat eine Uhr, um die Zeit zu messen. Wir müssen uns mit ganzen Tagen begnügen. Ein breiter, feuchter Gürtel aus Tang und leeren Muschelschalen verläuft am Wasser entlang, und wir versuchen möglichst nicht draufzutreten. Es ist heiß, und die Augenbinden, die wir für die Strandwanderung tragen, sind völlig durchgeschwitzt.
    Inzwischen hat David ein langes Brett gefunden. Es ist hellgrau und glatt, als hätte es jemand sehr sorgfältig mit Sandpapier abgeschmirgelt. Das Brett liegt wahrscheinlich seit Jahren hier am Strand im Wasser. Es soll unser Kalender werden.
    »Komisch, dass sich gar nichts verändert«, sage ich und sehe mich um. »Obwohl wir gehen und gehen, sieht es überall genau gleich aus.«
    »Ich weiß«, sagt Dinah. »Als ob alles nur eine Kulisse wäre. Ich hab das Gefühl, wir laufen immer im Kreis.«
    Ich drehe mich um und sehe unsere Fußspuren im Sand. Die sind wenigstens noch da. Als ich den Blick hebe, erblicke ich weit hinter uns die Silhouette von Red Bull.
    »Red Bull ist das Einzige, was sich hier unterscheidet«, bemerke ich. »Alles andere ist gleich.«
    »Gut, dass wir ihn gemacht haben«, sagt Gabriel. Wahrscheinlich sieht es hier so gleichförmig aus, weil das viele Wasser, das früher hier gewesen sein muss, alle Umrisse, alles Leben weggeschwemmt hat.
    Wir machen eine Pause und essen ein paar Muscheln. Tüchtig hopst durchs Wasser und versucht, uns durch eifriges Wühlen beim Tangsammeln behilflich zu sein. Plötzlich entdeckt Gabriel ein langes Brett, das im Wasser treibt. Mit einem begeisterten Ausruf holt er es heraus.
    »Das hier ist noch schöner«, sagt er.
    Aber als wir es genauer anschauen, stellen wir fest, dass es eigentlich exakt gleich aussieht wie das, das David gefunden hat. Die Bretter sind genau gleich lang, sie haben die gleiche hellgraue Färbung und sind gleich sorgfältig abgeschmirgelt. Sie sehen aus wie Zwillingsbretter.
    »Sogar die Maserung ist genau gleich«, sagt Gabriel erstaunt.
    »Irgendwie ist das nicht geheuer«, sagt David. »Das gefällt mir nicht.«
    Und bei diesen Worten sieht er mich an. Als wäre es meine Schuld!

XXII
    Gabriel und ich klemmen eins der Bretter zwischen zwei vertrockneten Silberbüschen fest. Dinah hat etwas eingeritzt.
Anno I Marzo
 IV , steht da in verschnörkelter Schrift.
    »Was ist das denn für eine Sprache?«, frage ich.
    »Keine Ahnung«, antwortet Dinah. »Ich fand einfach, das klingt gut.«
    »Muss ein komisches Jahr sein, das am vierten März anfängt«, bemerkt David.
    Ich nicke. Doch dann fällt mir ein, dass nicht alle Kalender gleich sind. Ich bilde mir ein, dass die Jahre hier auf Erden ziemlich beliebig kommen und gehen.
    »Fängt das chinesische Jahr nicht viel später an?«, sage ich. »Die haben doch eine andere Zeitrechnung als wir.«
    »Ja, die haben diese Tierjahre«, sagt David. »Vor einiger Zeit hatten sie das Jahr der Ratte. Das könnte dieses Jahr eigentlich auch sein.«
    »Nein«, sage ich. »Das hier ist das Jahr des Schweins. Kannst du das bitte einritzen?«
    Dinah nimmt das Brett wieder herunter, kniet sich damit auf den Boden und beginnt, es mit dem Messer zu bearbeiten. Sie arbeitet konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen.
Das Jahr des Schweins
, ritzt sie zusätzlich hinein.
    »Super!«, sage ich.
    »Wie viele Tage sind wir schon hier?«, fragt Dinah.
    »Keine Ahnung«, sagt David.
    Gabriel nickt zustimmend. »Kann mich auch nicht erinnern.«
    Ich überlege kurz. »Vier«, entscheide ich dann. »Vor vier Tagen sind wir an Land gegangen.«
    »Okay«, sagt Dinah. »Aber es fühlt sich an, als wären wir schon viel länger hier.«
    Dann schneidet sie vier senkrechte Striche in das Brett.
    »Das hier ist heute«, sagt sie und deutet mit dem Messer auf den letzten Strich.
    »Sonntag, der vierte März«, sage ich feierlich.
    Gemeinsam klemmen wir das Brett wieder zwischen die Büsche. Wenn ich es anschaue, geht es mir gleich besser. Genauso muss

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