Am Anfang war das Ende (German Edition)
vorbei und rennt auf den Heuboden. Als ich loslasse, fällt die hölzerne Falltür nach hinten gegen die Dachschräge und bleibt offen. Dann packe ich den Spaten mit festem Griff und hebe ihn über den Kopf.
Der Heuboden liegt im Dunkeln. Von den kleinen Fenstern oben in den Giebelspitzen fallen nur ein paar Schleier aus schmutzig braunem Licht in den Raum. Der Regen trommelt so heftig aufs Dach, dass der Lärm das Klappern der Schweinehufe auf den Bodenbrettern erstickt. Gut, denke ich. Hinter mir spüre ich Dinahs und Gabriels Atem. Ich bleibe still stehen, damit die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Als ich die Bodenbretter erkennen kann, mache ich ein paar tastende Schritte, dann gehe ich in die Hocke und spähe über den Fußboden. Tüchtig kommt zu mir her, aufgeregt grunzend.
»Hast du irgendwelche Ratten gefunden?«, flüstere ich.
Er antwortet mit einem neuerlichen kurzen Grunzen, bevor er wieder in die Dunkelheit verschwindet.
Ich stehe auf und folge ihm. Dabei schiebe ich die Füße vor mir her wie beim Langlaufen. Zuerst ist mir nicht klar, warum ich das mache, doch dann begreife ich, dass ich damit vermeiden will, auf eine Ratte zu treten.
Tüchtig kommt wieder zu mir her.
»Such!«, flüstere ich. »Such die Ratten!«
Er dreht sich um und rennt weiter. Inzwischen haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und ich kann sehen, wie er an den Wänden entlangschnuppert. Ich gehe wieder in die Hocke und lasse den Blick über den Boden schweifen. Eine dicke Schicht aus Rattendreck bedeckt die Bretter. Doch das ist alles. Ich wende den Kopf zu den anderen.
»Es ist leer«, rufe ich. »Kein einziger Rattenschwanz zu sehen!«
»Was?«, ruft David. »Machst du Witze?«
»Komm rauf und schau selbst nach!«, sage ich.
»Du glaubst doch nicht, ich hätte die Ratten bloß erfunden?« sagt David und kommt heraufgeklettert.
»Natürlich glaub ich das nicht«, sage ich. »Wir haben sie doch alle gehört. Aber jetzt sind sie verschwunden.«
David schaut sich um. Dann sieht er mich an. Wütend. Und erschrocken. »Hier stimmt was nicht«, sagt er. »Irgendwas ist hier faul!«
»Das gibt’s doch gar nicht«, sagt Dinah. »Wie können tausend Ratten einfach verschwinden?«
»Ich kapier gar nichts mehr«, sage ich. Die ursprüngliche Erleichterung, als ich sah, dass keine Ratten da waren, weicht einer wachsenden Beunruhigung.
Unschlüssig stehen wir mitten auf dem leeren Heuboden. Tüchtig kommt zu mir her und setzt sich neben mich.
»Wo ist Gabriel?«, fragt Dinah plötzlich.
Ich schaue mich um. Bis auf Dinah, David, Tüchtig und mich selbst ist der Heuboden leer.
»Er war doch gerade noch da«, sage ich.
»Pssst!«, macht David. »Was ist das für ein Geräusch?«
Kaum hat David das gesagt, höre ich es auch. Aber ich bin so auf die Ratten eingestellt, dass ich erst mal gar nicht verstehe, was es ist. Dann merke ich, dass das Geräusch nichts mit den Ratten zu tun hat. Es klingt wie schwere Schritte. Schritte, die sich von der Treppe zu nähern scheinen. Da kommt jemand! Panik kriecht mir am Rücken hoch und zerrt an meinen Nackenhaaren. Ich will hier weg!
Da kommt von der Luke her eine Stimme.
»Ich hab die Kamera auf dem Anhänger vergessen. Mann, das schüttet vielleicht.«
•
Gabriel hat nicht übertrieben. Als wir herunterkommen und die Stalltür öffnen, ist es, als würde man direkt ins Meer hinaustreten.
»Scheiße!«, schreit David und fährt heftig zurück. »Was für ein fucking beschissener Regen!«
Ich weiß nicht, ob es an seinen Worten liegt oder an dem fürchterlichen Regen oder vielleicht auch an der Kombination von beidem, auf jeden Fall muss ich wieder an das Vogelnest denken. Daran, wie alles anfing. Denn genauso war es damals. Der Regen war genauso wie jetzt. Genauso unglaubliche Wassermassen prasselten damals auf uns herab. Plötzlich erinnere ich mich an den letzten Abend, als wir draußen auf dem Holzdeck blieben, das Dach vom Schulhaus wegflog und der Jeep vom Ganser angeschwommen kam und gegen das Deck donnerte.
»Genauso war es doch damals auch«, sage ich.
Dinah wirft mir einen fragenden Blick zu. »Wie meinst du das?«
»Im Vogelnest. Als es so wahnsinnig geregnet hat«, sage ich.
Dinah schüttelt den Kopf und sieht Gabriel an, der ebenfalls den Kopf schüttelt.
»Hallo!«, sage ich. »Ihr müsst euch doch an den letzten Abend erinnern, als wir unter der Überdachung auf dem Holzdeck geblieben sind, weil es so irre geregnet hat und die Eiche auf dem
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