Am Anfang war das Ende (German Edition)
Stützen in den Boden klopfen.
»Gibt es nicht irgendwo anders auch so eine Statue?«, rufe ich David zu.
»Was?«, schreit er.
»So eine wie unser Red Bull. Steht so eine nicht irgendwo auf einem Felsen über einer Stadt?«
»Keine Ahnung«, brüllt er.
»Los Angeles«, rufe ich. »Da steht doch so eine Statue, oder?«, sage ich zu Dinah, die gerade zu mir herkommt.
Sie dreht sich um und schaut zum Wall. Dann schüttelt sie den Kopf. »Rio de Janeiro«, sagt sie. »In Brasilien. Da steht so eine.«
»Genau das hab ich gemeint«, sage ich. »Wen stellt sie eigentlich dar?«
»Jesus, glaub ich.«
Ich betrachte Red Bull. Er erinnert auch an Jesus, wenigstens mit ein bisschen gutem Willen. Von weitem sieht er bestimmt so aus wie diese Statue über Rio de Janeiro. Als riefe er: »Lieber Gott, komm und hilf uns!«
»Bist du fertig mit deiner Zeichnung?«
Dinah nickt. »Ich hab auch eine Nachricht geschrieben, falls ein Flugzeug verbeikommt.«
Ich sehe sie an. »Hältst du das wirklich für möglich?«
Dinah hebt die Schultern. »Man kann’s doch wenigstens hoffen.«
Ich glaube nicht daran, dass es irgendwo noch Flugzeuge gibt. Doch das sage ich nicht. Stattdessen frage ich: »Was ist heute wohl für ein Tag?«
»Was für ein Tag? Warum willst du das denn wissen?«
»Ich glaube, heute ist Sonntag«, sage ich.
Dinah lacht. »Sonntag«, wiederholt sie. »Von mir aus gern. Ist dir das wichtig?«
Ich nicke. »Ich finde, wir sollten eine Art Kalender machen«, sage ich. »Um die Zeit irgendwie festzuhalten.«
Dinah sieht mich verwundert an.
»So ohne einzelne Tage kommt mir alles unwirklich vor«, sage ich. »Man bringt irgendwie alles durcheinander.«
»Judit findet, wir sollten einen Kalender machen«, sagt Dinah zu David und Gabriel, die mit ihrer Arbeit an der Statue fertig sind und zu uns herunterkommen.
»Gute Idee! Wir könnten die Tage in ein Brett einritzen«, sagt Gabriel und hält das scharfe Messer aus der Werkstatt hoch. »Damit geht das ganz leicht.«
»Ich glaube, heute ist Sonntag«, sage ich noch einmal.
Gabriel sieht mich erstaunt an. »Also gut«, sagt er. »Und das Datum?«
Das ist schon schwieriger. Jetzt muss ich lange überlegen. Ich grüble, bis sich mir fast die Haare kräuseln.
»Der vierte März«, sage ich schließlich mit einem erleichterten Seufzer.
»Der vierte März?«
»Ja. Heute ist Sonntag, der vierte März.«
»Welches Jahr?«
»Oje«, sage ich. »Keine Ahnung. Ich glaube, wir müssen von vorn anfangen. Das Jahr eins.«
»Sonntag, der vierte März, im Jahr eins«, wiederholt Gabriel. »Das ergibt den Vierten Dritten null eins?«
»Genau«, sage ich.
»Jetzt müssen wir nur noch ein besonders schönes Brett finden, um es einzuritzen.« Gabriel klingt begeistert.
Endlich, denke ich. Endlich kommt ein bisschen Ordnung in unser Dasein hier in Weitwegistan.
•
Wir gehen hinunter ans Ufer. Die weißen Vögel schweben hoch über unseren Köpfen. Tüchtig rennt mit fröhlichen Sprüngen im Sand hin und her. Er ist so glücklich, weil er nicht mehr allein ist, denke ich. Wir sind seine neue Schweinefamilie. Ich möchte nur zu gern wissen, wo die alte ist.
»Pass auf meinen Text auf!«, ruft Dinah hinter ihm her.
Dann sehe ich die riesigen Buchstaben im feuchten Sand. HELP , steht da. Clever, denke ich. Englisch versteht fast jeder. Es wäre zu bescheuert gewesen, wenn sie HILFE geschrieben hätte. Das hätte kein Mensch verstanden, falls ein Flugzeug hier vorbeigeflogen wäre. Neben den Text hat Dinah vier Porträts von uns gezeichnet. Die sind uns fast unheimlich ähnlich.
»O Mann, Dinah, du bist einfach wahnsinnig begabt!«, rufe ich aus.
Dinah lacht.
»Die sehen ja genauso aus wie wir«, sage ich. »Ich kapier einfach nicht, wie du das machst!«
»Das ist doch überhaupt nichts«, sagt Dinah. »Das hab ich bloß schnell hingekritzelt.«
»Wenn ein Flugzeug vorbeifliegt, checken die das sofort«, sagt Gabriel voller Bewunderung.
»Und wenn ein Schiff kommt, sehen sie Red Bull«, sagt Dinah.
»Und was ist, wenn gar niemand kommt?«, sage ich. »Was ist, wenn weder ein Schiff noch ein Flugzeug kommt? Was machen wir dann?«
Dinah zuckt die Schultern.
»Dann müssen wir uns auf den Weg machen«, sagt sie. »Ins Landesinnere. Irgendwo
muss
es ja Menschen geben.«
»Das ist nicht gesagt«, wende ich ein und sehe die tote Familie vor mir. Ich habe versucht, möglichst nicht mehr an sie zu denken, weil sich mir dann nur der Kopf dreht. Ich glaube, wir alle
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