Am Anfang war das Wort
doch allen war erklärt worden, daß aufgrund der letzten Kürzungen nur noch einem von ihnen ein Platz zur Verfügung stünde, um eine »glatte« akademische Karriere zu machen. Für die anderen gebe es keinen Etat mehr. Die älteren Dozenten sahen in ihnen ihre geistigen Erben und vor allem den konkreten Ausdruck ihres Erfolges in der Literaturforschung. Obwohl alle wußten, daß nur einer von ihnen nach der Promotion eine Stelle als Dozent bekommen konnte, war es ihnen gelungen, untereinander ein enges und gutes Verhältnis zu bewahren, ohne einander zu verleumden, und Racheli hatte sich oft gefragt, ob das nicht eigentlich Thema einer besonderen wissenschaftlichen Studie sein könnte.
Sarah Amir strich ihr geblümtes Kleid glatt. Ihre klugen braunen Augen richteten sich zuerst auf Zipi, dann auf Ja'el – Racheli war das besorgte Aufblitzen in ihren Augen bei Ja'els Eintritt nicht entgangen –, dann sagte Sarah schließlich, ohne den Blick von Ja'el zu wenden: »Ido ist nicht mehr da.«
»Was heißt das, ist nicht mehr da?« fragte Zipi, und ihre Hand begann zu zittern, doch alle schauten Ja'el an, deren weißes Gesicht durchsichtig wurde und deren Lider zu zukken begannen. »Sie ist psychisch nicht sehr stark«, erinnerte sich Racheli an eine Bemerkung von Dita Fuchs, und sah von einem zum anderen. Alle hielten den Atem an, als Sarah Amir in ihrer unverblümten Art sagte: »Er ist bei einem Taucherunfall umgekommen.«
Adina machte den Mund auf, und Racheli wußte, daß sie die bekannten Sätze sagen wollte, von den Einzelheiten, die nicht bekannt seien, aber Adina besann sich, als Aharonowitsch ihr unter zusammengezogenen Brauen einen Blick zuwarf. Mit einer Zartheit, die man sonst nicht an ihm kannte, nahm er Ja'els Arm und führte sie zum offenen Fenster, durch das allerdings nicht der kleinste Windhauch hereindrang. Er zog sie an seine Schulter und streichelte ihr zärtlich den Arm, während Adina schnell ein Glas Wasser aus dem Flur nebenan holte. Niemand achtete auf Zipi, die den Stapel mit Blättern fallen ließ und in lautes, heiseres Weinen ausbrach. Ja'el stand am Fenster und sagte kein Wort, ihr Körper war wie erstarrt. Adina hielt ihr das Glas Wasser hin, dann wandte sie sich schließlich an Zipi und hielt ihre kleine Aussprache bezüglich der Einzelheiten und der Beerdigung. Sie beendete sie mit der Frage, ob Zipi den Dekan der Fakultät gesehen habe, und Zipi schüttelte den Kopf und murmelte schluchzend: »Ich suche ihn auch, ich komme gerade von seinem Zimmer, aber da ist er nicht, das Zimmer ist abgeschlossen, ich war für heute morgen mit ihm verabredet.«
Ja'el schüttelte Aharonowitschs Hand ab und sagte mit ihrer glockenreinen Stimme – Tirosch hatte einmal in Rachelis Anwesenheit gesagt, wie schade es sei, daß sie nicht singen gelernt habe, dann hatte er hinzugefügt, wenn man die Augen schließe, höre man hinter ihrer Stimme Arien aus der Hochzeit des Figaro – mit dieser glockenreinen Stimme sagte sie also: »Aber es kam ein unangenehmer Geruch aus seinem Zimmer.« In diesem Moment dachte Racheli, das sei der Beweis dafür, daß sie letztlich doch nur eine ganz gewöhnliche Verrückte sei.
Wieder wurde es still im Zimmer. Tuwja schaute sie erschrocken an, als er sagte: »Was meinst du damit?« Rachelis Blick huschte von einem zum anderen. Plötzlich kamen ihr alle wie große Geier vor, die auf eine unbekannte Beute warteten, und nur Ja'el, schwarz gekleidet, sah aus wie ein verirrtes Vögelchen. Sie wiederholte: »Ich weiß nicht, ein seltsamer Geruch wie von einer toten Katze.«
Wie immer war es Sarah Amir, die sich schnell faßte. Sie stand auf, schob ihren Stuhl zum Fenster in die schmale Lücke zwischen der Wand und Schreibtisch und drückte Ja'el darauf. Dann wandte sie sich zum Schreibtisch und zog mit einer entschlossenen Bewegung die Schublade auf. Adina blieb noch nicht einmal Zeit, zu protestieren, als sie das Schlüsselbund herauszog, von dem alle wußten, daß es da lag, das aber noch nie jemand in die Hand zu nehmen gewagt hatte. Sie suchte schnell einen Schlüssel heraus, wandte sich an Adina und fragte mit klarer, entschiedener Stimme: »Es ist der da, nicht wahr?«
Adina nickte und sah bestürzt zu Awraham Kalizki hinüber, dessen kleine, lächerliche Gestalt gerade den Türrahmen versperrte. Sein Gesicht, das immer den etwas verwirrten Ausdruck eines klugen, aber hilflosen Schülers zeigte, sah noch verwirrter aus, als er das volle Zimmer sah. Adina sagte, er
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