Am Anfang war das Wort
seine Wangenknochen noch stärker hervortreten ließ. »Man muß es nicht unbedingt so nennen«, sagte er, »aber, ja, mehr oder weniger.« Im selben Atemzug fragte er, ob sie eine Vorstellung habe, wer Scha'ul Tirosch ermordet haben könnte.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie habe in der Nacht lange nachgedacht, sagte sie, weil sie nicht einschlafen konnte, weil sie immer daran denken mußte, wie die Leiche ausgesehen und gerochen habe, aber sie habe wirklich keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Keiner der Leute, die sie kannte, käme ihr wie ein Mörder vor.
»Und beim Fakultätsseminar?« fragte er, und sie begriff, daß er sie bald wegschicken würde. »Schreibt irgend jemand mit, was dort passiert?«
»Nein, das ist eine ziemliche Massenveranstaltung. Manchmal werden die Vorträge gedruckt, aber das war offenbar ein ziemlich ungewöhnlicher Abend, ich habe gehört, daß alles für Radio und Fernsehen aufgenommen wurde. Zipi hat es mir am nächsten Tag erzählt.« Racheli bemerkte die Veränderung in seinem Gesicht, als falle ein Vorhang herunter, und plötzlich herrschte eine ganz andere Atmosphäre im Raum.
»Fernsehen?« fragte er, und in seinen Augen blitzte es auf. »Ist das immer so, daß das Fernsehen bei den Fakultätsseminaren dabei ist?«
»Nein«, antwortete Racheli, »natürlich nicht. Es gibt doch jeden Monat ein Seminar. Das war wegen Professor Tirosch. Er wurde der Liebling der Medien genannt.«
»Wer hat ihn zum Beispiel so genannt?«
»Ich glaube, Aharonowitsch. Er hat Professor Tirosch immer lächerlich gemacht, wegen allem möglichen. Aber nie in seiner Anwesenheit.«
»Hatte Aharonowitsch einen besonderen Grund, Tirosch lächerlich zu machen?«
»Nicht daß ich wüßte. Vielleicht ist er nur krankhaft neidisch. Nur über Tiroschs Gedichte hat er nie gelacht. Aber neben Tirosch hat Aharonowitsch immer ziemlich abstoßend gewirkt, er ist ja sowieso nicht gerade attraktiv, aber neben Professor Tirosch ist es immer besonders aufgefallen.« Plötzlich fühlte sich Racheli sehr müde, und sie wußte mit verzweifelter Sicherheit, daß dieser Mann sich ihr niemals nähern würde. Sie hatte keine Kraft mehr zu sprechen.
Als wüßte er, wie sie sich fühlte, erhob er sich von seinem Stuhl und sagte, er würde ihre Hilfe vielleicht noch einmal benötigen, aber im Moment könne sie gehen. Für einen Augenblick ruhten seine braunen Augen auf ihr, aber er war mit den Gedanken schon nicht mehr bei ihr.
Eine junge Frau mit blauen, weit aufgerissenen Augen riß mit einem energischen Schwung die Tür auf und rief: »Hör mal, Michael ...« Dann bemerkte sie Racheli und hielt abrupt inne.
Michael, dachte sie, so heißt er also. Und obwohl die Frau wartete, daß Racheli das Zimmer verließ, und nichts mehr sagte, spürte Racheli die Intimität zwischen den beiden, eine Art Gleichheit, und das Herz wurde ihr schwer, als er die Tür weit öffnete und sagte: »Ich danke Ihnen sehr.«
Sie gab keine Antwort, sondern ging schnell hinaus in den engen Korridor. Dort bemerkte sie das erschrockene Gesicht Adinas, die in einer Ecke saß und sich erhob, um etwas zu ihr zu sagen. Aber Racheli verschwand, sie hatte keine Kraft, Adina gegenüberzutreten und zu berichten, was dort in jenem Zimmer passiert war.
Racheli rannte den Korridor entlang, die Treppe zum Erdgeschoß hinunter, von dort zum Hinterhof des Migrasch ha-Russim und zur Jaffastraße.
Die Sonne schlug ihr entgegen, in dem hellen Licht mußte sie die Augen zusammenkneifen. Vor dem Schaufenster der Buchhandlung Jarden blieb sie stehen und entdeckte das neueste Buch Arie Kleins: »Die musikalischen Ursprünge in der Lyrik des Mittelalters«. Ihre Beine zitterten, als sie an der Ampel des Zionplatzes wartete, bis es Grün wurde. Der Zeitungsverkäufer auf der anderen Straßenseite ließ es ergeben zu, daß sie stehenblieb und die Schlagzeilen in den Abendzeitungen las, die von dem Mord berichteten und alle ein großes Foto von Scha'ul Tirosch auf der Vorderseite hatten. Schließlich kaufte sie eine Zeitung und steuerte auf das Café Alno in der kleinen Fußgängerzone zu und setzte sich an einen leeren Tisch.
Die Kellnerin wartete ungeduldig, bis sie sagte: »Eine Cola mit Zitrone.« Dann versuchte sie den Artikel zu lesen, der auf der zweiten Seite fortgesetzt wurde und eine Beschreibung der Leiche und der Lebensgeschichte Tiroschs enthielt sowie einiges über den Leiter der Untersuchungskommission, Oberinspektor M. Ochajon, dessen Ruhm sich
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