Am Anfang war das Wort
gewesen, aber er sei herausragend und völlig anders, erklärte Tuwja mit seiner monotonen Stimme.
Ruchama schaute sich um. Die Spannung im Saal war verschwunden, als hätte jemand das Licht ausgemacht. Die Zuhörer lauschten mit höflicher Konzentration. Die Gesichter der Frauen, auch der jüngeren, zeigten noch einen Widerschein des Eindrucks, den Scha'ul Tirosch auf sie gemacht hatte, und ihre Augen waren immer noch auf ihn gerichtet. Man hätte nicht sagen können, daß sie Tuwja keine Aufmerksamkeit schenkten, doch es war die wohlerzogene Aufmerksamkeit, die sich auf bekannte, vorhersagbare Dinge richtete. Man wußte von vornherein, welches Gedicht Dr. Tuwja Schaj, einer der älteren Dozenten des Fachbereichs, wählen würde, um seine Auffassung von einem guten Gedicht darzulegen. Mit halbem Ohr hörte Ruchama den gelehrten Ausführungen zu, die sie schon viele Male gehört hatte, wenn ihr Mann leidenschaftlich über Tiroschs Dichtung sprach.
Man konnte sich keine größere Loyalität und Bewunderung vorstellen, als Tuwja sie Scha'ul Tirosch entgegenbrachte. Verehrung, das ist das richtige Wort, dachte Ruchama. Einige nannten ihn Tiroschs »Alter ego«, andere sprachen von seinem »Schatten«, und es bestand eine allgemeine Übereinkunft, daß es besser sei, in Tuwja Schajs Anwesenheit kein Wort der Mißbilligung, der Kritik oder des Spotts über Tirosch zu verlieren. Tuwja wurde flammendrot, und in seinen Mäuseaugen glitzerte Wut, wenn jemand etwas zu sagen wagte, das einen gewissen Mangel an Bewunderung für den Dekan seiner Fakultät verriet.
Während der letzten drei Jahre, in denen sie ein Verhältnis mit Tirosch hatte, hatte der Klatsch zugenommen. Ruchama merkte es an dem Schweigen, das entstand, wenn sie einen Raum betrat, oder bei Festen der Mitglieder der Fakultät, an den schnellen, freundlichen Antworten und an dem wissenden Lächeln Adina Lifkins, der Sekretärin. Sie bemerkte auch, daß der Klatsch eine neue Dimension bekommen hatte: die Empörung angesichts der Beziehung zwischen Tuwja und Tirosch.
Doch Tuwja hatte seine Haltung nicht geändert, nicht einmal an jenem Tag, als er sie auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer Wohnung ertappt hatte, sie mit halboffener Bluse, die sie mit bebenden Händen zuknöpfte, und Scha'ul mit einem Feuerzeug in der zittrigen Hand. Tuwja lächelte verlegen und fragte, ob sie Lust hätten, etwas zu essen. Scha'ul stand auf und folgte Tuwja in die Küche. Sie saßen den ganzen Abend friedlich am Küchentisch, mit belegten Broten, die Tuwja vorbereitet hatte. Über die hastig zugeknöpfte Bluse wurde kein Wort verloren, auch nicht über das dunkle Jackett, das samt Krawatte über einen Sessel geworfen worden war. Nie hatten sie darüber gesprochen, weder damals noch später. Tuwja stellte keine Fragen, und Ruchama lieferte keine Erklärung.
In der Tiefe ihres Herzens dachte sie, dies sei das Geheimnis, das die Leute der Fakultät und die Literaten des Landes nur gar zu gern in allen Einzelheiten aufgedeckt hätten. Niemand wagte es, den Akteuren dieses Dramas eine Frage zu stellen. Ruchama Schaj wirkte mit ihren einundvierzig Jahren immer noch jung. Die kurzgeschnittenen Haare und der mädchenhafte Körper gaben ihr das Aussehen einer Frucht, die, nie ganz ausgereift, auf das Vertrocknen wartete. Auch sie selbst bemerkte die beiden tiefen Falten; die sich allmählich in ihren Mundwinkeln bildeten und ihr das verliehen, was Tirosch schon »dein weinendes Clownsgesicht« nannte.
Sie wußte, daß man ihr ihr Alter nicht ansah, zum einen wegen der Jeans und der Männerhemden, die sie trug, zum anderen auch, weil sie sich nicht schminkte. Sie war anders als die »weiblichen Frauen«, mit denen Tirosch vor ihr zusammengewesen war. Er selbst sprach nicht über seine früheren Affären, auch nicht von denen, die er immer noch hatte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ihn zufällig durch das Fenster eines kleinen Cafes gesehen, wie er sich mit der Hand über die Silbertolle strich, während er Ruth Duda'i, Idos junger, rundlicher Frau, tief in die Augen sah.
Sie kannte den konzentrierten, leidenden Ausdruck in seinem Gesicht nur zu gut. Das Gesicht Ruths, einer Doktorandin der philosophischen Fakultät, konnte sie nicht sehen. Er bemerkte Ruchama nicht, die das Gefühl hatte, zu spionieren, und schnell verschwand.
Obwohl ihre Beziehung immer intimer geworden war, gab es doch Dinge, über die sie nicht mit ihm reden konnte. So sprach sie nie über ihre Gefühle gegenüber
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