Am Anfang war das Wort
nicht, warum. Er verstand fast nichts, aber die Geschichte Davids und des Aufrührers Absalom hatte er immer geliebt. Manchmal hatte er das Klagelied »Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!« vor sich hingesagt, beim Autofahren, wenn ihn eine unerklärliche Traurigkeit gepackt hatte, lange bevor er selbst Vater geworden war.
Wie durch einen Schleier hörte er die Stimme der älteren Frau, die mit einem nicht klar identifizierbaren Akzent – irgend etwas Osteuropäisches – aus der Schrift die Verse vorlas, die von der Geburt Simsons und seinem Leben handelten. Dann nahm sie für einen Moment ihre Lesebrille ab und fragte: »Und jetzt die Auslegungen?«
Schaj nickte, und Michael fühlte auf eine Art, die er sich selbst nicht erklären konnte, die Anspannung, die den Dozenten gepackt hatte, eine Erregung, die immer stärker wurde, je länger die Frau die Auslegungen der Verse vorlas. Sie zitierte die Bibelkommentare in getragenem Ton, und Tuwja Schajs Hände ballten sich langsam zu Fäusten, je weiter sie kam.
Als sie schließlich sagte: »Das war alles zu Simson«, machte Tuwja Schaj den Mund auf und sagte mit der Stimme eines Menschen, der Kindern ein Märchen erzählt: »Um was geht es da eigentlich, in der Geschichte von Simson? Haben Sie einmal darüber nachgedacht?«
Es wurde ganz still. Michael beobachtete die Studenten. Einige spähten zur Tür, einige rutschten unruhig hin und her, aber Schaj wartete die Antwort nicht ab. »Haben Sie über den Widerspruch in dieser Figur nachgedacht? Über die Tatsache, daß er insgeheim ein gottgeweihter Nasiräer ist, also Enthaltsamkeit gelobt hat, ein Richter, der gleichzeitig sein Licht unter den Scheffel stellt? Ich möchte Sie daran erinnern«, seine Stimme wurde laut, und er hob den Finger, »daß er seinen Eltern nichts von dem Löwen erzählt hat, er hat nirgendwo damit geprahlt.«
Er betrachtete die Studenten, dann wanderte sein Blick zum Fenster, durch das man eigentlich eine ferne Landschaft hätte sehen müssen, das aber in Wirklichkeit nur den Blick auf die Mauer des Gebäudes gegenüber freigab. »Haben Sie darüber nachgedacht, daß er ein Ehebrecher ist, der zweimal auf ähnliche Weise von zwei Frauen betrogen wird, sowohl von seiner Frau als auch von Delila, und daß seine Widersprüchlichkeit ihren Höhepunkt erreicht – wann? Wo ist der Höhepunkt der Widersprüchlichkeit in Simsons Charakter?«
»In seinem Tod«, stellte der zweite junge Mann ruhig fest. Er starrte auf seine Füße, dann hob er die hellen Augen zu Schaj, der ihm aufmunternd zulächelte, seine Worte mit einem Nicken bestätigte und wiederholte: »Richtig, da, in seinem Tod, bekommt seine Gestalt fast mythische Dimensionen. Denken Sie darüber nach, dieser blinde Riese, der, umgeben von spottenden Philistern, um eine letzte Möglichkeit zur Vergeltung vor seinem Tod bittet. Stellen Sie sich das Bild vor, es zeigt eine durchaus tragische Erhabenheit.« Er musterte die Studenten, wie um sicher zu sein, daß sie ihn verstanden hatten. Michael wandte die Augen nicht von ihm, aber es gelang ihm nicht, seinen Blick zu treffen. Der Mann verhielt sich, als sei Michael überhaupt nicht anwesend.
»Worauf ich Sie hinweisen möchte, ist, daß in der Bibel die Gestalt ›Simson, der Held‹ einerseits als eine Art Herkules und andrerseits auch ein bißchen als lächerliche Figur dargestellt wird.«
Wieder betrachtete Michael die Studenten. Der Mann neben ihm hatte immer noch sein Kinn in die Hand gestützt, er starrte vor sich hin und machte sich auch keine Notizen. »Ich bitte Sie, nicht zu vergessen«, erklang Schajs Stimme nach kurzem Schweigen, »daß die Bibel Simsons Haare als Metonymie darstellt, als Teil, der das Ganze repräsentiert, seine besondere Beziehung zu Gott, eine Beziehung, die ihm übernatürliche Kräfte verleiht. Im Bewußtsein der Leser verwandelt sich das Haar in das Symbol der Kraft selbst. Simsons Beziehung zu Gott einerseits und seine Schwäche gegenüber Frauen andrerseits, eine Schwäche, die sich in Dummheit oder mindestens in Naivität ausdrückt, bringt diesen entsetzlichen Widerspruch hervor. Zweimal«, Tuwja Schaj hob zwei Finger, »zweimal wurde er von zwei Frauen betrogen, die er liebte. Das ist nicht nur Dummheit, das hat auch etwas Hochmütiges – Simson kommt gar nicht auf die Idee, daß ihm seine Kraft geraubt werden könnte. Die Bibel beschreibt eigentlich einen
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