Am Anfang war das Wort
keine Antwort. Zum tausendsten Mal betrachtete er das königliche Eingangstor zum Migrasch ha-Russim und staunte darüber, wie wenig das alles zusammenpaßte. Der russische Palast als Rahmen und die dünnen, provisorischen Wände, die das Innere in verschiedene Büros aufteilten. Ihm gegenüber, in der Sonne, lag die stille, russische Kapelle. Sonntags war sie voller Leute, und der Gesang der russisch-orthodoxen Nonnen drang heraus. Manchmal hörte er den Gesang, wenn er an dem Gebäude vorbeiging oder in seinem Auto vorbeifuhr. Immer rührte er ihn an, und es dauerte einige Minuten, bis ihm einfiel, daß Sonntag war. Manchmal hörte er den Gesang auch in Begleitung von anderen, wenn er am Kiosk stand, und registrierte befriedigt das Staunen in den Gesichtern der Zuhörer, die diesen Eindruck aber sofort abschüttelten und sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuwandten. Er betrachtete die großen Fässer, die den Parkplatz eingrenzten, und den Kiosk, dann wanderten seine Augen wieder zum Dach der runden Kapelle, das grün in der Sonne glänzte, er sah die Herberge, die Prinz Sergio aus dem Hause Romanow der Kirche gegenüber erbaut hatte, für die russisch-orthodoxen Pilger. In diesem Gebäude waren jetzt die Büros der Gesellschaft für Naturschutz untergebracht, außerdem ein Zweig des Landwirtschaftsministeriums. Michael ließ seinen Blick über den ganzen Migrasch ha-Russim wandern, über die prachtvollen steinernen Schlösser, die mit geringem Aufwand den Bedürfnissen der israelischen Behörden angepaßt worden waren, und wieder weckte die Diskrepanz zwischen den Büros und der Vision des Prinzen Sergio Staunen in ihm, ein Staunen darüber, daß in dem heutigen, prosaischen Jerusalem überhaupt Menschen leben konnten.
Er fand seine Sonnenbrille im Handschuhfach des Autos und setzte sie auf, als das Auto losfuhr.
Sie standen im Flur neben dem Sekretariat. Tuwja Schaj rieb sich mit einer Hand die Stirn. In der zweiten hielt er ein dünnes Heft und eine Mappe. Er sagte gereizt: »Es ist die letzte Vorlesung vor dem Jahresende, ich kann sie nicht ausfallen lassen.«
»Auch nicht nach allem, was hier passiert ist? Sie lassen doch Vorlesungen aus weit belangloseren Gründen ausfallen, hier, schauen Sie doch diese Zettel an.« Michael deutete auf Ankündigungen am Schwarzen Brett, das an der Wand hing, und sagte: »Familiäre Gründe oder ganz ohne Angaben von Gründen. Warum können Sie die Vorlesung nicht ausfallen lassen? Und wenn Sie plötzlich krank geworden wären?«
»Scheren Sie uns nicht über einen Kamm«, sagte Schaj zornig. »Ich lasse nie einfach so eine Vorlesung ausfallen. Den Studenten wurde es vorher nicht angekündigt. Warum soll ich sie jetzt im Stich lassen?«
»Weil zwei von ihren Dozenten ermordet worden sind«, sagte Michael einfach, und Tuwja Schajs Zorn verflog, er schien sich plötzlich zu erinnern und sah aus, als wäre er unter eine kalte Dusche geraten.
»Alles, was ich in diesem Jahr gelehrt habe, muß heute zusammengefaßt werden. Auf diese Vorlesung habe ich das ganze Jahr hingearbeitet«, sagte er. »Warten Sie doch noch anderthalb Stunden, länger dauert es nicht. Sie können inzwischen ja mit anderen sprechen, warum brauchen Sie gerade mich so dringend? Erst gestern habe ich einen ganzen Tag bei Ihnen herumgesessen.«
»Sie sind der letzte, der ihn lebend gesehen hat«, erinnerte ihn Michael, und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Und Sie standen ihm auch besonders nahe, wie ich immer wieder gehört habe.«
Schaj hob die Hand, dann sagte er: »Sie können mich nicht dazu zwingen, daß ich meine letzte Vorlesung ausfallen lasse. Gestern habe ich Ihretwegen schon die Übungen in Lyrik versäumt.«
»Glauben Sie denn, daß überhaupt Studenten kommen? Schließlich sind die ja auch gehörig verschreckt.«
»Sie haben mich angerufen und gefragt, ob die Vorlesung stattfindet, und ich habe ja gesagt. Wir haben beschlossen, nichts ausfallen zu lassen, weder Vorlesungen noch Prüfungen. Es ist das Ende des Jahres.«
Michael schwieg einige Sekunden, dann verkündete er: »Aber ich warte auf Sie im Hörsaal, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Machen Sie, wozu Sie Lust haben. Ich verstehe nur nicht, was Sie bei einer Vorlesung wollen, von der Sie nichts verstehen. Ich versuchte Ihnen zu erklären, daß es um das Verknüpfen von Fäden geht, die sich durch ein ganzes Jahr gezogen haben. Außerdem werden wir uns mit einem äußerst schwierigen Text beschäftigen, und ich
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