Am Anfang war die Mail
die blutige Masse sah, die einmal ein Gesicht gewesen war, zog sich krampfhaft sein Magen zusammen. Plötzlich verstand er, warum so selbstverständlich von Doppelmord die Rede gewesen war. Die eine konnte sich nicht selbst erstochen haben, und der andere sah aus, als hätte er in ein Schrotgewehr geguckt. Was von seinem linken Auge übrig geblieben war, lag tief in der Höhle eingesunken. Die Pupille und der weiße Rand darum waren mit einem rosafarbenen Film überzogen. Das andere Auge fehlte vollständig.
Keller ging in die Hocke und lehnte sich etwas zurück. Der Gestank, der von dem Toten ausging, war schon jetzt atemraubend. Die Nase, der Mund, die Wangenknochen – einfach alles, was einem Gesicht die typische Form gab, war nur noch ein aufgeplatzter, blutiger Krater. Kleine Fliegen krochen über die schartigen Wundränder. Und als perverser Kontrast ragte die weiße Spitze eines abgebrochenen Zahns aus der schwarzen Höhle, die sein Mund gewesen war. Blutstropfen an der Wand hinter ihm bildeten einen grotesken Heiligenschein. Der Rest des Körpers schien allerdings nahezu unversehrt.
Keller schluckte trocken und wandte sich ab. Im Laufe der Jahre hatte er schon öfter Menschen gesehen, die so zugerichtet worden waren. Sogar mehr als das. Doch der Leichnam eines zu Tode geprügelten Menschen ließ ihn immer noch nicht kalt.
Sein Blick fiel durch die letzte Tür. In dem fast völlig leeren Raum hockte ein weiterer Mann im weißen Overall und untersuchte einen Fleck auf dem nackten Estrichboden.
Hier war der Gestank sogar noch penetranter als in der restlichen Wohnung. Verbrauchte, stickige Luft mischte sich mit dem beißenden Ammoniakgeruch von abgestandenem Urin und etwas, das man nicht so genau definieren wollte. Jedes Zimmer wirkte vernachlässigt und schmutzig, aber keines war so heruntergekommen wie dieses. Mit angehaltenem Atem wagte er einen kurzen Blick hinein. Die Fenster waren von innen mit schwarzer Folie verklebt, das Licht fiel nur schwach hindurch. Die beiden Männer von der Spurensicherung hatten einen Standscheinwerfer aufgebaut, um besser arbeiten zu können. Keller bemerkte die ausgefransten Ränder der grauen, nackten Raufasertapete, als hätte jemand nachträglich einzelne Stücke herausgerissen.
Er räusperte sich übertrieben laut, um den galligen Geschmack von seiner Zunge zu bekommen. Als einer der beiden Männer zu ihm aufsah, zeigte er auf die Tapetenränder. »Kann das ein Haustier gewesen sein?«
Der Größere zuckte mit den Schultern. »Möglich«, murmelte er unter der ovalen Papiermaske über seinem Mund hervor. »Aber dann hat er die Stücke wohl gefressen. Herumliegen tut hier nämlich nichts. Und das passiert allein wegen des Kleisters eher selten.«
Keller sah zur Decke hinauf. Das weiße Kabel, das sich wie ein verendeter Wurm aus der Decke schlängelte, endete in einem roten und einem blauen Draht. Keine Glühbirne. Keine Fassung. Noch nicht einmal eine Sicherung. Nur die blanken Kupferspitzen. »Nicht gerade ein Tierfreund«, murmelte er, einen Blick über die gebeugte Gestalt werfend. »Gibt es hier sonst noch etwas?«
»Eine Kindermatratze, ziemlich verdreckt allerdings. Ist schon unterwegs ins Labor. Und zwei Decken, die waren auch ganz schön mitgenommen.«
Wedding kam um die Ecke und betrachtete das zweite Opfer. »Hast du so was schon mal gesehen?«
›Ja‹, dachte er, ›aber es wird niemals besser.‹ Laut sagte er: »Nein, in der Art noch nicht.«
Der Jüngere nickte in den leeren Raum. »Und was hältst du davon?«
Keller zog sich die Handschuhe aus und wischte sich die feuchten Hände an den Hosenbeinen ab. »Was immer da drin war: Nicht gerade artgerechte Haltung.«
Einige Zeit später folgte Keller dem geschwungenen Bogen der Ringstraße zurück auf dem Weg ins Präsidium. Sie hatten noch den Abtransport der Leichen abgewartet, sich danach aber sofort auf den Weg gemacht. Alle vorläufigen Ergebnisse würden sich erst bei der Obduktion ergeben. Ein undankbarer Job, bei der mindestens einer von ihnen ebenfalls anwesend sein musste.
Keiner von ihnen war negativ gestimmt, den Tatort verlassen zu müssen. Der beißende Gestank hatte sie bis in den Wagen verfolgt. Obwohl die Klimaanlage bereits wieder auf Hochtouren lief, klebte der Geruch weiterhin wie zäher Lack in der Nase.
»Okay, die beiden hießen Schaack«, ging Wedding seine Notizen durch, »das stand zumindest auf der Post. Sein Vorname war Thomas. Ihr Vorname fehlt noch. Im
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