Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
Vom Netzwerk:
Er hatte schon gedacht, er könne zurück in den Behandlungsraum. Doch das Stöhnen zog sich hin. Und er war unkonzentriert. Dachte an das Fräulein. Dann tat er etwas, das er noch nie bei einer Patientin getan hatte: Er legte ihr die Hand auf den Mund. Er tat es mit dem Gedanken, die Krise abzukürzen. Das hätte er nicht tun dürfen. Eine Krise ist eine Krise. Und jede Patientin hat ein Recht auf ihre Krise. Und er die Pflicht, ihr beizustehen. Er aber hatte nur an die neue Patientin gedacht. Und hatte Ossine sacht die Hand auf die Lippen gelegt. Mit sofortiger Wirkung. Anstatt zu sich zu kommen, stöhnte sie lauter. Wand sich unter seiner Hand und fing an, nach seinen Fingern zu schnappen, an seiner Hand zu lecken, als ob sie nichts sei als ein großer feuchter Mund, dem er sich nun zu widmen habe. Er ließ ihr seine Hand. Angenehm war das nicht. Und doch fesselt ihn alles Lebendige. Sie begann, an seinen Fingern zu saugen. Es dauerte, bis sie die Augen aufschlug und in seine Hand hineinsprach. Jetzt sei es gut. Sie spüre es. Er solle ihr die Hand lassen, bitte.
    Als sie eingeschlafen war, machte er sich auf die Suche nach Familie Paradis.
    Fand sie im Klavierzimmer. Wo die Eltern die Köpfe nach ihm drehten. Vorwurfsvoll die Mutter, eher gekränkt derVater. Beiden steht noch der Schrecken im Gesicht. Die Tochter am Klavier rast die Tonleitern hinauf und hinunter. Sie jagt sich durch alle Tonarten, als müsse sie etwas hinter sich lassen, als rasten ihre Finger vor etwas davon. So schnell hat keiner mehr auf diesem Klavier gespielt, seit der kleine Mozart es heimsuchte. Schwindelerregend schnell. Und mit einem Ton, so voller orgelnder Kraft.
    Resi prüfe das Instrument, sagt der Hofsekretär, den Anschlag, den Klang, die Mechanik. Nach dem letzten Cis beginnt sie ein langsames Stück, das Mesmer nicht kennt.
    Eine eigene Komposition, flüstert die Mutter.
    Er habe nicht gewusst, dass sie komponiere, flüstert Mesmer zurück. Es leuchte ihm aber ein. Wo der weibliche Aspekt sich durch einen männlichen nicht erfüllen werde – und das Fräulein steuere ja wohl kaum auf einen Mann zu –, lasse sich dieser männliche Aspekt durchaus mit der schöpferischen Tätigkeit des Komponierens kompensieren.
    Die Mutter schaut ihren Mann an.
    Was der Doktor da eben gesagt habe, verstehe sie nicht.
    Ganz einfach, flüstert der Hofsekretär. Er hat gesagt, dass Resi nie heiraten wird. Und dass sie deshalb ruhig komponieren soll.
    In diesem Moment nimmt das Fräulein die Hände von den Tasten, nickt, sagt, ja, das werde gehen, das Klavier habe sie akzeptiert, sie seien Freunde geworden.
    Was denn mit dieser Frau plötzlich los gewesen sei, will der Hofsekretär wissen. Das sei ja unerträglich, wie sie sich benommen habe.
    Die Patientin habe eine Crisis gehabt.
    Was denn das für eine Art Krankheit sei, eine Crisis . Und ob sie ansteckend sei?
    Gar keine Krankheit. Eher etwas wie der Modus einer Krankheit, wenn er verstehe, was er meine.
    Der Modus einer Krankheit. Aha, lacht der Vater müde. Wie immer, wenn er nicht versteht. Das Wort Modus kenne er aus der Musik. Die Krankheit wechselt also von Dur nach Moll? Also darüber müsse er …
    Denken Sie, sagt Mesmer, an den Charakter eines Musikstücks. Dann sei, er zögert, die Crisis vielleicht am ehesten einem Presto vergleichbar. Im Unterschied zur Musik aber, wo ein Presto nicht mehr gelte als ein Adagio, stelle die Crisis eine Art Höhepunkt jedes krankhaften Zustands dar.
    Danach gehe es abwärts mit einer Krankheit. Aufwärts mit der Gesundheit. Vous comprenez?
    So, so, sagt der Hofsekretär, eine Crisis ist also etwas Willkommenes. Höhepunkt und zugleich Anfang vom Ende. Verstehst du, Resi, sagt er.
    Das Mädchen nickt und senkt den Kopf.
    So könnte man es vielleicht sagen, sagt Mesmer.
    Er wolle aber doch wissen, wie es dieser Frau jetzt gehe. Ob sie wieder zu sich gekommen sei. Auf gut Deutsch: Je voudrais jeter un coup d’œil dans la chambre . Er wolle einen kurzen Blick ins Nebenzimmer werfen, sagt der Herr Hofsekretär.
    Mesmer bedauert. Auf gar keinen Fall. Nach einer Krise müsse die Patientin strikt ruhen.
    Wenn er seine Kleine die nächsten Wochen hierlasse, sagt der Sekretär, müsse er doch wissen, woran er sei.
    Dieser Hofsekretär lässt nicht locker.
    Nie sei sie so lange allein von zu Hause fort gewesen.
    Er werde, sagt Mesmer schroff, jetzt das Zimmer zeigen, in dem sie untergebracht sei, dann müsse er um die Beendigung der Audienz bitten. Seine

Weitere Kostenlose Bücher