Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
Vom Netzwerk:
wieder gearbeitet, soll heißen, sie sind weiter herausgekommen. Dabei sollten doch ihre Finger arbeiten, nicht ihre Augen. Die sollen sich in ihren Höhlen entspannen. Während Maria am Klavier ihre Hände übt.
    Sie ist jedesmal froh, wenn die Prüfung von gestern auf heute keinen Unterschied ergibt. Und, hat Kaline gefragt. Die Augen fühlten sich trocken an. Und ein bisschen hart. So ungefähr wie gekochte Eier.
    Und wie Kaline dann erklärt hat, zur Sitzung mit dem Doktor genüge ein Unterkleid. Drüber ein Hausmantel. Und wie sie Marias Hand zu einem unwiderstehlich weichen Stoff führte. Einem samtig weichen, sehr leichten Stoff. Und wie sie sich zusammenriss. Für den Doktor auf Hemd und Schnürleib bestand, die Luft anhielt, als Kaline die Bänder und Schnüre zuzog, sich zuschnüren ließ und sich Unter- und Oberkleid über den Kopf zog. Das komplette, schwer wiegende Kleid.
    Sie hat darauf bestanden. Stumm. Und Kaline half. Ebenfalls stumm. Wofür sie ihr dankbar war.
    Danke, danke. Ihr Kopf drehte sich um dieses Danke herum, ohne dass sie es aussprach. Bis es zu spät ist für das Danke. Zu spät wie ein verpasster Einsatz. Doch manches, weiß sie, vermittelt sich auch, ohne es auszusprechen. Ob ihr Dank dazugehört? Ganz sicher ist sie nicht.
    Kaline bot ihr jetzt einen Duft an, um den Schlafgeruch zu überdecken.
    Den Schlafgeruch, den widerlichen. Aus dem Reich der ekligen Dinge. Ihr bestens bekannt durch die Laute ihrer Freundin.
    Ekel beginnt mit Iii. Wie das Schwelgen in Wohlgerüchen mit Mmmmhhs und Ooohs beginnt. Wenn sie ihr mit den Duftfingern im Gesicht herumtupft. Und ihr hinter die Ohren schleicht, an die Achseln, die Handgelenke, zwischen die Brüste. Dort eben, wo ein Mädchen duften soll. Wie die Blumen im Garten der Eltern. Die sie pflückt, zwischen die Lippen schiebt. Die Blütenblätter mit der Zunge abtrennt. Eins nach dem andern. Spürt, wie sie erschlaffen. Und sie nicht ausspuckt, sondern in den Mund hineinzieht. Bis sie am Gaumen kleben. Wo sie sie mit der Zunge hortet. Um wenigstens etwas zu schmecken. Der Geschmack von Grün. Von Gelb. Von Rosarot. Soll sie jetzt erzählen, wie aufregend es ist, wenn man weiß, man duftet, und auch die Wörter dafür weiß, aber nicht, wie man riecht. Und nicht, wie man aussieht, wo oder wie man ist.
    Sie hat sofort Ja gesagt zu Kaline. Als Kaline ihr diese Wortheimat namens Lavendel-Rosen-Wasser anbot. Gegen das Unwohlsein. Das Fremdsein in diesem Haus. Sie hat Ja gesagt, weil sie Kalines Hände mag, die ihr jetzt den Duft aufklopfen. Da gibt es noch etwas, das helfen könnte: Sie bittet Kaline, ihr die Frisur zu stecken.
    Auch wenn Kaline zugibt, dass sie kein Coiffeur sei, die Frisur aber sowieso für unnötig hält und es auch sagt. Laut und deutlich. Die Frisur sei jetzt aber nicht nötig. Zur Sitzung beim Doktor genüge der eigene Kopf. Marias eigener Kopf gibt aber nicht nach. Mit ihrem deutlichen Schweigen. EinemSchweigen, das von Kaline auf jeden Fall gehört und verstanden wird. Wie von den meisten Menschen. Aber jetzt, in diesem Moment, vor dem Doktor, der darauf wartet, dass sie etwas erzählt, würde sie lieber nicht nur schweigen. Würde sie lieber sprechen. Und findet keinen Anfang. Keinen Anfang, dem sie trauen könnte. Der sie wohin führte und nicht im Kreis herum. Sie ist nicht so flink wie Kaline, die sagte, Na gut. Dann aber schnell. Und das Haar herüberbringt. Und lacht dabei. Während ihre Hände ernst blieben. Solche Hände, wie Maria sie mag.
    Kalines Hände wissen, was sie tun. Sie lachen nicht ohne Grund. Es kommt vor, dass ihr die Hände eines Menschen lieber sind als der Mensch, der an ihnen angewachsen ist. Ihr letzter Arzt fällt ihr ein. Dr. Barth. Spezialist für Augen, Star und Stechen. Sie mochte ihn. Sie hat seinen Händen vertraut. Die waren sehr leicht. Kühl und ein bisschen hart. Aber sie vertraute ihnen, denn sie berührten Maria, als hätten sie noch nie etwas anderes als Maria berührt. Seinen Händen war zu trauen. Doch seine Ideen machten ihr Angst. Und seine Ideen stülpte er allmählich seinen Händen über, wenn so etwas möglich ist. Die probierte er an, wie maßgeschneiderte Handschuhe. Was denkt sie schon wieder für wirres Zeug. Kalines Hände sind dazu da, um hinter Kalines Ideen zurückzutreten. Sie tun ihre Arbeit, als sei die Arbeit das Gemeinsame zwischen Kaline und ihr. Und nicht der Lohn, den Kaline dafür erhält. Ganz anders: das Mädchen ihrer Eltern. Deren Hände hart und spitz

Weitere Kostenlose Bücher